Sagengut als Quelle der Siedlungsforschung
Zu den Sagenstädten Gression und Badua
Von Walter Kaemmerer





Die letzten Ausgrabungen im Bereich des sagenumspielten Badewaldes, aber auch neue Beobachtungen in Aachen 1) und in verschiedenen Teilen der Westeifel 2) lassen erneut die schon oft berührte Frage nach dem Zusammenhang zwischen den nachweislichen Römerstätten und dem Andenken des Volkes daran in seiner Sagenwelt aufwerfen 3). Denn mit Fug und Recht verspricht sich seit längerem die Siedlungsforschung des Landes daraus neue Einsichten in das ehemalige Siedlungsgefüge zwischen Maas und Rhein vor der Frankenzeit. Flur- und Bergnamen, Wegespuren, aber nicht zuletzt auch örtliches Sagengut müssen dort weiterhelfen, wo aus irgendwelchen Gründen die Spatenforschung versagt oder zu spät kommt. Die Grundfrage dabei wird sein, wie weit solche Überlieferungen dazu geeignet sind. Das zu entscheiden, hängt wesentlich davon ab, wie sehr man - gegenüber positivistischer und allzu rationaler Geschichtsdeutung - heute wieder bereit ist, Überlieferungen der genannten Art auch als Geschichtsquellen gelten zu lassen.

Zweifler an der Berechtigung solcher Methode sollten sich Schliemanns erinnern, der in unbeirrbarem Glauben an den geschichtlichen Kern der Iliassage Troja wiederentdeckt hat. In unserem engsten Landschaftsraum gab vor Jahren der damalige Ortspfarrer von Schevenhütte Robert Geimer ein ähnliches Beispiel, als er auf Grund einer Sage vom schwarzen Ritter auf dem Burgberg im Wehetal die Reste einer keltischen Fliehburg entdecken konnte.

Beweisführungen im angedeuteten Sinne tragen ihre Beweiswürdigkeit letzten Endes in sich, dann nämlich, wenn die 'objektiven' Tatbestände der Spatenforschung mit den Überlieferungen im Volke ganz oder doch nahezu übereinstimmen. Das hat man auch früher häufig gesehen, ohne allerdings in größerem Maße entscheidende Folgerungen gelten zu lassen. Wenn aber solche Übereinstimmung nicht mehr nachzuweisen ist, wird man doch prüfen müssen, ob jene Volksüberlieferungen wenigstens den Ansatz zu weiteren Nachforschungen siedlungskundlicher Art abgeben können. Dazu möge hier, zunächst vorn Sagengut aus, für den Raum Aachen-Düren ein neuer Versuch gewagt werden.

Für die römischen Siedlungszusammenhänge in der Westeifel interessiert zunächst der Sagenkreis um die untergegangenen Riesenstädte Gression und Badua. Alle Einzelheiten darüber sind den Sagensammlungen von Hoffmann 4) und Henssen 5) bequem zu entnehmen. Hier darf es deshalb bei Hinweisen sein Bewenden haben. Gression und Badua sollten zwei 'Städte' gewesen sein, die der Sage nach bei Straß zusammengestoßen sind. In dem Begriff der Stadt gibt sich dabei die Vorstellung eines Landvolkes kund, bäuerlicher Zuwanderer etwa der Frankenzeit, die jene andere Siedlungs- und Bauweise der Römer als Gegensatz zu ihrer eigenen, dörflichen Lebensform empfunden haben. Römer waren es ja, die nach mehrfacher Sagenbekundung Bewohner jener Städte gewesen sein sollen.

Daß Gression, die an Ausdehnung größere der beiden Städte, mit dem Namen des heutigen kleinen Ortes Gressenich zusammenhängt, ist immer schon angenommen worden und liegt nahe. Gressenich (Crasciniacurn) war zur Frankenzeit eine königliche Villa, die Ludwig der Deutsche i. J. 844 an die Abtei Kornelimünster verschenkt hat. Der Besitz dieses Crasciniacum in der Hand des karolingischen Königtums deutet aber auf ursprüngliche Übernahme eines herrenlosen Römergutes zur Landnahmezeit durch den König. Die römische Gesamtsiedlung nun, die unter dem Namen Gression und ähnlich weiterlebt, soll sich einmal von Mausbach und Gressenich im Südwesten und Berzbuir und Straß im Südosten des Landes über 5-7 Wegestunden hin. und zwar bis nach Kinzweiler und Altdorf bei Jülich erstreckt haben. Überall, mit Ausnahme einer kleinen Höhe östlich von Düren, habe die Inde die östliche Grenze der Stadt gebildet. Danach war also der Stadtbereich Gressions deutlich von den zur Römerzeit vielleicht noch dichter besiedelten Landstrichen um Jülich (Juliacum) und Thorr an der römischen Hauptstraße Köln-Jülich-Heerlen-Maastricht abgegrenzt. Wenn von der Sage vereinzelt auch Würselen und Vetschau bei Aachen als Bestandteile Gressions angegeben werden und die Stadt sich nach der anderen Seite sogar bis Köln hingezogen haben soll, so mag man in dieser Überlieferung den Blick des Volkes auf alles Römische hierzulande gerichtet sehen. Wichtig scheint dabei, daß Aachen als eigener keltisch-römischer Heiligtums- und Badebezirk nicht mehr in Gression einbezogen gewesen ist.

Das Stadtgebiet des sagenhaften Gression erstreckte sich hauptsächlich über den gebirgigen Teil der Inde-Rur-Landschaft. Es ist kaum ein Zufall, wenn viele örtliche Sagen Teile der Stadt nicht in die Ebene oder ins Tal, sondern auf die Berge verlagert sehen. Das gilt für die heutigen Ortschaften Birgel (Mahdberg), Frenz (Burgberg), Kinzweiler (Mühlenbongart), Lamersdorf (Piefeberg), Langerwehe (Uhles), Merken (Schloßberg), Schlich (Knosterberg) und Straß-Gronau (Wilhelmshöhe), von den Höhen um Gressenich selbst ganz abgesehen. Nur an wenigen Stellen (Geich, Kirchberg, Pier) soll ein Sumpf den Platz des untergegangenen Gression anzeigen. Wichtig ist ferner, daß die Stadtteile der Sage nicht mit den heutigen Orten unmittelbar gleichgesetzt werden. Auch der Siedlungsbefund zeigt oft, daß die ehemaligen Römerstätten häufig außerhalb der jetzigen Ortssiedlungen gelegen sind. Die fränkischen Neusiedler haben sich also wohl dem alten Straßennetz entsprechend, jedoch nicht anstelle der römischen Trümmerstätten sondern daneben, mehr oder weniger weit von ihnen entfernt, niedergelassen. Es bestand eben zur Zeit der Landnahme ein deutlicher Gegensatz zwischen der älteren, offenbar industriell bestimmten Siedlungsform der Römerzeit und der nun bäuerlichen Lebens- und Siedlungsweise der Franken. Sage und Spatenforschung stimmen dabei in ihren geschichtlichen Aussagen durchaus überein.

Die Sagen wissen vielerlei Einzelheiten dieser Stadt: Der Mittelpunkt habe in Lamersdorf gelegen, ein Marktplatz zu Geich, das Altdorf bei Jülich sei schon Vorstadt gewesen. Von Stadttoren berichtet man zu Langerwehe im 'Poezefeld', zu Dürwiß und zu Gürzenich, von Burgen oder Festungsbauten (wobei hier auch die Sagen von untergegangenen Heidenburgen mit einbezogen werden dürfen) zu Frenz, Geich, Hoven, Kinzweiler, Langerwehe und Merken; in der 'Göldesburg' zu Pier habe das Oberhaupt der Stadt seinen Sitz gehabt. Von Kirchen der Stadt Gression, demnach also heidnischen Tempelbauten, will man zu Geuenich, Langerwehe (Bergkirche) und Lürken wissen; als Friedhöfe werden bezeichnet die Flur 'Dudeläge' (Todtleger) zu Lucherberg, das Egelskamp bei Altdorf und das Weihernest bei Gressenich. Außerdem habe Gression an einem großen schiffbaren Fluß, dem Omerstrom (Harnich, Scherpenseel), gelegen.

Die Bewohner der Stadt werden teils als Römer, klein von Gestalt, teils auch als Heiden bezeichnet; infolge ihres lasterhaften Lebens seien sie durch eine Sündflut, nach anderen durch einen Stadtbrand, nach wieder anderen durch eine Schlacht zugrunde gegangen; schwarze Erde oder auch das Kohlevorkommen im Boden zeuge von der Art dieses Unterganges in einer Schlammflut oder durch einen gewaltigen Brand. Daß die Bewohner einst Bergbau betrieben hätten, wird mancherorts bezeugt; man zeigt noch heute die Stellen dieser alten Bergbaubetriebe, so in der Landschaft um Gressenich den Schieverling, das Römerfeld, Killewittchen und das Bergwerk am Weißenberg, ebenso den Bleiberg bei Langenbroich. Auch die Sagen von verborgenen Schätzen, wie sie etwa in Schlagstein und in Röhe (Schatzloch) erzählt werden, mögen hierbei nicht übersehen werden.

Weniger reichlich fließen Sagennachrichten über jene andere 'Römerstadt' Badua, deshalb wohl, weil ihr Gebiet heute dünner besiedelt ist als das des benachbarten Gression. Über Badua erzählt der Volksmund von Straß im Norden bis Hausen im Süden, nämlich zu Untermaubach, Schlagstein, Bergstein, Abenden, Wollersheim und Embken, wobei man wohl auch die Sondersage von einer untergegangenen Stadt Thumbach (zu Thum hier miteinbeziehen darf. Die beiden Großstädte Gression und Badua grenzten, wie oben schon bemerkt, zu Straß aneinander: Sollten danach dort tatsächlich einmal zwei verschiedene römische Verwaltungsbezirke bestanden haben? Wir wissen ja so wenig vom Leben in den vorfränkischen Landschaften dieser Gegenden, weshalb selbst solche sagenhaften Hinweise mit allem Vorbedacht überprüft werden müssen.

Wenn man aber dem Sagengut ganz allgemein doch einen gewissen Quellenwert zuzubilligen bereit ist, müssen vielleicht auch noch einige andere Sagenbereiche neben den bisher behandelten herangezogen werden. Sie alle ergänzen nämlich bei näherem Zusehen einander in auffallendem Maße.

Da wäre wohl zunächst die Frage nach dem Volkstum in den beiden Römerstädten, worüber die Sagen mancherlei Andeutungen machen. Unser geschichtliches Wissen darüber unterscheidet im Siedlungsraum zwischen Maas und Rhein zur Römerzeit zwischen einer vorkeltisch-germanischen Stammbevölkerung, einer keltischen Schicht mit teilweiser germanischer Unterwanderung und einer römischen Überschichtung seit dem ersten nachchristlichen Jahrhundert. Doch bricht sich bei sorgfältiger Überprüfung des überlieferten Namenschatzes 6) zusehends der Gedanke Bahn, daß von einer römischen, also südländischen Überfremdung des Landes nur in geringem Ausmaß die Rede sein kann. Wahrscheinlich waren nur die obersten militärischen Kommando- und zivilen Verwaltungsstellen mit Ausländern, also echten Römern besetzt gewesen. Das einheimische Volk aber führte trotz mancherlei Angleichung in der Lebensweise an südländisches Wesen, etwa in der Übernahme von Religionsformen und Kulturgütern, im ganzen sein Dasein nach alter Gewohnheit fort.

Wir sahen schon: Römer oder Heiden von kleiner Gestalt sollen die Bewohner jener untergegangenen Städte gewesen sein. Der Bericht eines alten Mannes aus Heistern 7) kann sinnvoll zur Art dieser Leute und ihrer sagenhaften Erscheinung überleiten: 'Im Römerfeld zwischen Gressenich und Werth war ein uraltes Bergwerk. Die Bergleute, die dort einstens arbeiteten, waren von sehr kleiner Gestalt. Man nannte sie Tartaren, auch Römer und wegen ihres kleinen Wuchses Heinzelmännchen. In ihrer Arbeit waren sie sehr geschickte Leute, und der ganze Boden war ausgehöhlt durch Gänge und Gewölbe, in denen sie fleißig Erze suchten. Da kam eines Tages ein fremdes Kriegsvolk, zerstörte die Bergwerke und rottete die Bergleute aus.' Es geht nach solcher und vielen ähnlichen Schilderungen kaum an, die sagenhaften Heinzelmännchen nur als mythische Berggeister zu deuten. Der Zusammenhang mit römischen Siedlungsresten und ehemaligen Bergwerken wird an zahlreichen Stellen des Landes offenbar. Als Römermännchen erschienen sie auch im 'Schieverling` zwischen Gressenich und Grube Diepenlinchen, als Quärresmännlein ebenda im 'Quärresloch` und an den 'Quärressteinen', und in den Quärreslöchern auf der Höhe zwischen Bernhardshammer und Derichsberg bei Stolberg; Killewittchen werden sie zu Hastenrath nach den gleichnamigen Felsenhöhlen und Steinbrüchen dort benannt. 'Sechersmännchen' lebten auf dem Knickelsberg westlich von Hehlrath, 'Krötzmännchen` im Kirchspiel Fronhoven, 'Kellemännchen' im Kelleloch des Kelleberges bei Wollseiffen. Im ganzen gesehen liegt demnach der Anschauung des Volkes über diese Heinzelmännchen neben zweifellos mythischen Vorstellungen auch die Erinnerung an uraltes Volkstum von untersetzter Gestalt zu Grunde. Die Sagen lassen dabei etwas von der untergeordneten rechtlichen Stellung dieses Völkchens durchschimmern, wird es doch als ein dienendes Menschentum, teils hilfsbereit, teils tückisch hingestellt, wie eben Leute sind, die unterdrückt und zurückgedrängt worden sind oder sich auch selbst vor der nunmehr herrschenden Bevölkerung zurückgezogen haben, in seinem Wesen wie in seiner rechtlichen Stellung halb oder ganz unfrei, nur noch gebraucht oder, wenn man will, mißbraucht zu rein handwerklichen Aufgaben, insbesondere dem schweren Dienst in den Bergwerken. Ginge also die Sagenerinnerung tatsächlich noch in die Zeiten der Auseinandersetzung zwischen dem einheimischen kleinen Menschenschlag der Keltenzeit (wie er in manchen Teilen der Wallonie noch heute zu finden ist) und dem größeren germanisch-fränkischen Menschenschlag zurück, dann gäbe sie verstohlenen Einblick in die durch keine geschichtlichen Nachrichten mehr verbürgten Reibungen zwischen dem verschiedenartigen Volkstum der Wanderzeiten, in die damit bedingten und geschichtlich bekannten rechtlichen Unterschiede zwischen Voll- und Halbfreien, in die religiöse Gegensätzlichkeit zwischen Heiden und Christen und letztlich auch in ein landschaftliches Nebeneinander zwischen alter Industrie- und jüngerer Bauernbevölkerung 8).

Die Gebundenheit so vieler Sagen an erweisbare Römerstätten leitet hinüber zu einem anderen Sagenkreis, der nicht weniger stark eine Brücke zur einstigen Römerzeit und -kultur zu schlagen geeignet ist, zu den Juffernerscheinungen. Im Gebiet der Zwerge zu Killewittchen bei Hastenrath geht in den Fluren tagsüber auch eine weiße Dame um, ebenso treten sie nächtens aus dem Henzensloch bei Untermaubach auf. Wie es Heinzelmännchenpfade gibt 9), wie im mittelalterlichen Aachen ein Heinzenturm im zweiten Stadtmauerring (um 1300) eine alte Römerstraße versperrt hatte, so sind andere Römerwege im Volk verrufen, weil auf ihnen zu gewissen Zeiten eine oder meistens drei Juffern erscheinen; bekannt ist ja der Jungfernpfad, der vom Lüftelberg über Gilsdorf und Alster nach Weilerswist hinführt, weniger bekannt ein Jungfernpfädchen zu Derichsweiler; auch auf den 'Grünen Wegen', also ehemaligen Römerstraßen, wandeln gerne die geheimnisvollen Jungfrauen, wie solches zu Düwiß und zu Untermaubach vermerkt wird. Außerordentlich zahlreich sind sodann hierzulande die Flurnamen, die mit den Juffern oder, wie sie in christlicher Umdeutung heißen, den Märgen zusammenhängen. Ein 'Juffernpützchen' gibt es zu Flosdorf wie zu Teveren, eine Juffernkuhl in Röhe und in Arnoldsweiler, einen 'Jungfernstein' zu Mausbach, ein 'Juffernknapp' in Gey-Birgel, eine 'Juffernley' in Blens, einen 'Juffernforst' zu Eller, einen Mergegraben' bei Leversbach. Eine besondere Abart wäre noch Frau Lieschen die im 'Lisgens-Sief' bei Röhe erscheint.

Hier, wo der siedlungsgeschichtliche Wert der Sagen im Blickpunkt liegt, braucht nicht mehr auf die ideologischen Zusammenhänge zwischen den Juffernsagen und dem Matronenkult der Römerzeit mit seinen Steindenkmälern auf der einen und der christlichen Verehrung der drei Marien (Märgen) oder der drei Jungfern (Fides, Spes und Caritas) auf der anderen Seite erneut eingegangen zu werden. Wissenschaftlich gesehen besteht über Kultbeziehungen dieser Art im ganzen kaum noch Uneinigkeit.

Erstaunlich zahlreich sind, vom siedlungsgeschichtlichen Standpunkt aus, die Ortsnamen am Rande der Westeifel mit sichtlicher Beziehung auf die Frauen oder Mütter: Frauenkron (Kreis Schleiden), -rath (Jülich), -berg (Bergheim) und Frauwüllesheim (Düren); dazu wohl auch die Frohn-Orte Frohngau (Schleiden), -hof (Aachen), -rath und -mühle (Düren), dann die eindeutigen Mütter-Orte wie Müddersheim (Düren) und Möderscheid (Malmedy) und schließlich der Swisterhof in Weilerswist. An verschiedenen dieser Orte ist der Nachweis der Mütterverehrung durch römische Matronensteine bereits erbracht. Wenn sie an anderen Stellen bisher fehlen, so spricht das keinesfalls gegen einen früheren Kult dort, sondern sehr viel mehr für die Zufälligkeit archäologischer Überlieferungen 10); diese andersher zu ergänzen, muß deshalb Aufgabe der Siedlungskunde sein, zumal die starke Veränderung der Landschaften in neuerer Zeit durch Eisenbahn, Industrie usw. der eigentlichen Spatenforschung immer mehr Boden entzieht.

Die Juffernerscheinungen der Sagen offenbaren übrigens auch mancherlei über die einstigen Formen des Mütterkultes, die aus anderen Quellen, vornehmlich Denkmalsfunden, meist nicht mehr zu entnehmen sind. Daß die Juffern auf bestimmten Wegen wandeln, wurde oben schon dargetan; die dortigen Angaben seien noch ergänzt durch ähnliche Sagenerscheinungen auf Wegen zu Berg-Thuir (Krüllesgraben), Düren (Peschgasse), Gürzenich (Kreuzweg an der 'Kett') 11), Lendersdorf (am Kottengraben), Leversbach (Mergegraben), Merzenich (Girbelsrather Weg), Rövenich (am Siechhaus, Straße Zülpich-Köln), Soller (Stockheimer Weg: im 'hl. Jättche'), Verken (Verkespfädchen), Vettweiß (Seelenpfädchen) und Winden (im 'Grof'). Dann sind sie häufig auf Wiesen zu finden, so in Heistern, Arnoldsweiler, Juntersdorf, Nideggen und Nörvenich - oder auf Feldern und im Walde: Eller (Juffernforst), Gey-Birgel (Juffernknapp), Gressenich-Hastenrath (Atzenau), Jülich (Stepprather Juffer und Viehöven Selgerbusch). Ihre Verbindung mit Stätten untergegangener Burgen und 'Klöster' (im Volksglauben) ist bekannt. Auffallend häufig aber sind sie an Sümpfen, Weihern und Bächen zu finden, ich nenne dafür Arnoldsweiler (Juffernkuhl), Drove (Burgweiher), Floßdorf (Juffernpötzche), Jülich-Stepprath (im Hinkebruch), Muldenau-Wollersheim (im Bröggereed), Nörvenich (alter Weiher), Röhe (Lisgens Sief), Verken (längs des Schlibachs), Teveren (Juffernpötzche) - eine Auswahl, die sich wohl bei näherem Zusehen und vor allem in benachbarten Landesteilen beliebig vermehren ließe..

Zuweilen erscheint eine Juffer kopflos (Freialdenhoven, Gressenich, Hastenrath, Hausen). Man sollte sich dabei erinnern, daß uns kopflose Götterbilder der Römerzeit vielfach überliefert sind, wobei nicht zufällige, sondern sehr willkürliche Verstümmelungen aus der Zeit der Christianisierung, als äußerer Ausdruck des Göttersturzes, vorliegen 12). Andere Berichterstatter sahen die Juffern tanzend einherschreiten (Bogheim, Bongert, Merzenich). Es scheint mir, daß auch darin tatsächliche Erlebnisse der alten Kultformen, als Tanz oder Reigenspiel, durch die Sage übermittelt sind. Es wird ja niemand ernsthaft leugnen können, daß in unserem Landvolk noch viel abergläubisches, also ursprünglich heidnisches Kultbrauchtum bis in die Gegenwart hinein heimlich weiterlebt. Wäre dem so, dann dürften auch die Sagen von Hexenerscheinungen und vor allem Nachrichten über Hexentanzplätze einmal ernsthafter in den Kreis solcher Betrachtungen gezogen werden. Solche Tanzplätze sind aus unserem Gebiet zu verzeichnen in Berg vor Nideggen (Wiese am 'Kofferner Hoff' und 'op de Sömp'), Bergstein (Wiese am Bach), Büsbach (Hexenbendchen), Bogheim (Lichtenbroich), Boich (am Berkesgaade), Echtz (Duffesmaar, Mauweide und 'im Schöbbich'), Fronhoven (Galgenmorgen), Ginnick-Füssenich (Hohebenden), Gürzenich (Schindskuhl), Hamich (Wiese Herricherötchen, auch Hexenplei), Jüngersdorf (Wiese am Weiherhof), Leversbach (Gras unfern dem Mergegraben, dort Treffpunkt der Mergesjuffer mit Hexen!), Luchem (Wiese gegenüber Langerweher Kirche), Mausbach (im Peisch), Moerde (Bonget), Müddersheim (Hexenbaum 'op der Heed'), Niederzier (Wiesen anstelle des einstigen Schlosses Landau), Pier (Vikariebongart), Röhe (Lohner Gracht), Obermaubach (Mausauelsdriesch), Untermauhach (auf dem Burgbroich) und Vlatten (am Hausener Galgen).

Nicht jede dieser Nachrichten mag örtlich sorgfältiger Überprüfung auf ihren geschichtlichen Wert standhalten. Auch ist ähnliches, wie mir scheint, ebenso bedeutsames Sagengut, das mit dem vorgenannten ideologisch oder örtlich zusammenhängt - man denke an das Auftreten des 'Wilden Heeres' oder an den Bachstüpp, das Bachkalb und mehr - hier noch gar nicht in Betracht gezogen worden. Auch die wissenschaftlichen Methoden solcher Art Verknüpfung von Volkssage und Siedlung der Frühzeit müßten erst noch sehr viel genauer herausgearbeitet werden. Das Ziel aber dürfte abgesteckt sein: Wie im ganzen Siedlungsgefüge Kirchdörfer seit Einführung des Christentums die wahren Pole des Volkslebens sind, so hat auch das Volkstum der Vorzeit Mittelpunkte in ihren Kult- und Wallfahrtsstätten gehabt. Sie wieder aufzufinden, könnte unserer Siedlungsforschung neuen Auftrieb geben.


Anmerkungen

  1. W. Kaemmerer, Geschichtliches Aachen 2 (1957); dazu ders. in Aufsätzen: Das älteste Aachen - ein keltischer Heiligtumsbezirk (Aachener Nachr. v. 28.-30. 12. 1950); Im Aachen der Römerzeit (Aachener Nachr, v. 16. 4., 24. 4. u. 26. 4. 1952).

  2. A. Pohl, Über den Matronenkult in der Rur- und Neffellandschaft (Die Eifel Juli 1952 Nr. 7, S. 98. - W. Kaemmerer, Zur Religionsgeschichte des Kreises Schleiden (Heimatkalender des Kreises Schleiden 1956, 41).

  3. Zu den Ausgrabungen im Badewald vgl. H. v. Petrikovits, Germania 34, 1956, 99 ff.

  4. H. Hoffmann, Zur Volkskunde des Jülicher Landes. 1. Teil: Sagen aus dem Rurgebiet (Eschweiler 1911); 2. Teil: Sagen aus dem Indegebiet (Eschweiler 1914).

  5. G. Henssen, Sagen, Märchen und Schwänke des Jülicher Landes (Bonn 1955).

  6. U. Kahrstedt, Methodisches zur Geschichte des Mittel- u. Niederrheins (Bonn. Jahrb. 150, 1950, 63). - L. Weisgerber, Die sprachliche Schichtung der Medionatrikernamen (Rhein. Vierteljahrsblätter 18, 1953, 249). - Ders., Zum Namengut der Germani cisrhenani (Annalen des Niederrheins 155/156, 1954, 35).

  7. H. Hoffmann, Indesagen (1914) 99, Nr. 237a; vgl. ebenda Nr. 236.

  8. In der Eifel sind die Heinzelmännchen Bergleute wie in den Ostalpenländern und anderwärts. Vgl. dazu R. Egger, Genius cucullatus (Wiener Prähist. Zeitschr. 19, 1933, 311 ff.). - Ders., Der hilfreiche Kleine im Kapuzenmantel (Österr. Jahreshefte 37, 1948, 90 ff.). - W. Deonna, De Télesphore au 'moine bourfu'. Dieux, génies et démons encapuchonnés (Coll. Latomus 21, 19i5).

  9. Vgl. Kunstdenkmäler 9, 1: Landkreis Düren S. 1 Einleitung; auch A. Schoop in Bonn. Jahrb. 110, 1903, 365. - Die Römerstraße von Beil nach Bertrich führt über einen 'Heinzenberg' (J. Hagen, Römerstraßen der Rheinprovinz 2 [1931] 320).

  10. M. Ihm. Der Mütter- oder Matronenkultus und seine Denkmäler (Bonn. Jahrb. 83, 1887, 1). - M. Zender, Die Matronen und ihre Nachfolgerinnen im Rheinlande (Rhein. Vierteljahrsblätter 10, 1940, 159).

  11. Über Kettensagen vgl. H. Chr. Schöll, Die drei Ewigen (Jena 1936) 50 ff. - Über einen siedlungsengen Zusammenhang zwischen Ketten- und Frauen-Flurnamen vgl. auch J. Boehmer, Frauensif, Kettensif und Scherpsif in Zeitschr. d. Aachener Gesch. Vereins 58, 1937, 174 ff.

  12. Dazu auch A. Pohl a. a. O. - Verf. konnte soeben an dem i. J. 1910 im Grundmauerwerk der Pfalzkapelle Karls d. Gr. zu Aachen aufgefundenen Mercurstein die Beobachtung machen, daß vom Götternamen der Inschrift die drei ersten Buchstaben, also der Kopf des Namens, mit Vorbedacht getilgt worden sind; der so willkürlich beschädigte Weihestein hatte zudem als Fußplatte des ehemaligen Petrusaltars in der Pfalzkapelle gedient (Zeitschr. d. Aachener Gesch. Vereins 68, 1956, 408 ff.).





Quelle: Sonderdruck aus Bonner Jahrbücher, 155/156, Teil II, 1955/56, Verlag Butzon & Becker, Kevelaer/Rheinland
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