Die Findlinge der Eifel.

Von Peter Kremer, Wittlich.




In dem Dreieck zwischen dem Ulmener Maar, den Dauner Kraterseen und dem unweit der Ahr gelegenen Städtchen Adenau dehnt sich eine große Heide. Nur stille Menschen sollen hier wandern, denen die unermeßliche Einsamkeit ein Labsal ist und die für alle Armut ein weiches Herz in sich tragen. Nur Sonntagskinder können diese Hochfläche ganz begreifen, wenn im Spätsommer an den Wegen, die hindurch sich schlängeln, die blutbetauten Ebereschen, die Judenkirschen, unheilvoll funkeln, wenn über den weiten Heideflächen das Klingen anhebt, erst mit wenigen Glöckchen, dann mit unzähligen Stimmchen, bis eines Morgens über dem ganzen braunroten Lande ein einziger Ton in der zitternden, silbrigen Luft schwebt, unsagbar fein, wie ein endlos ferner Paradiesesklang.

Bisweilen lugt ein Dörflein hinter einem Hang hervor. Man will es nicht glauben, daß in solcher Armut Menschen leben können. Aber diese Menschen sind wie das Heidekraut, das um sie wächst: so anspruchslos, so bescheiden und so genügsam, so sturmstark und so winterhart. Zwischen dem Heidekraut schreitet ihr weidendes Vieh, und in die Heide haben sie ihre Äcker hineingebohrt. Auf dem ausgebrannten Vulkansande reist ihr Buchweizenbrot und ein bischen Hafer und magere Erbsen. Das ist alles.

Aber noch andere Dinge gibt es auf dieser Heide, wovon die Leute auch sich nähren; denn der Mensch lebt nicht allein vom Brot. Das sind zunächst die Wacholderbüsche, die in geisterhaften Figuren und Gestalten dort im Sande wurzeln und des Nachts umherwandeln wie dunkle Gespenster. Und es sind ferner die ungefügen Basaltblöcke, die großen und seltsam geformten Steine, die zahllos verstreut in dieser Einsamkeit liegen. Diese beiden Heidewesen liefern den Dorfleuten für die Herbst- und Winterabende ihre Geschichten.

Besonders um die verlassenen, unförmigen Blöcke ranken sich ihre Sagen. Wie harmlos liegen sie tagsüber dort! Zwar ist ihr Antlitz fremdartig schwarz; aber das kommt vom Feuer, das sie einst ausgespien hat. Und es kommt auch vom Alter, denn sie haben schon da gelegen, als sich noch keine Menschen hier auf dem mageren Boden abrackerten. Und von all den Völkern, die in den vielen Jahrhunderten hier hausten oder vorüberzogen, hat keine Hand sie auch nur ein Stückchen weitergewälzt. Selbst die Hunnen und die Schweden haben sie liegen gelassen, während sie sonst alles mitnahmen. So sagen die Leute, und sie lachen sich noch heute in die Faust daß auch denen doch etwas zu schwer war. Die Gestalt hat ihnen das Eifelwetter gegeben, das hat sie meist rund gemacht und blank wie ein vorzeitlicher Riesenschädel. Ihre Kanten sind glatt und gefeilt; vielleicht hat einmal das Wasser, das stärkere Hände hat als die Menschen, sie ein Stück weiter den Hang hinab gerollt. Nun liegen sie hier verstreut auf dem schwarzen Sande. Rings um sie her blüht die bienenübersummte Heide. Aber das Heidekraut wagt es gar nicht, sie zu bewältigen, sie zu überwuchern. Es überläßt die allernächste Nachbarschaft der groben Gesellen armseligen Grashälmchen. Doch die Wacholdersträucher sind mutiger, und bisweilen hat sich ein Busch dicht hinter einen Basaltklotz gestellt und ist über ihn hinaus gewachsen. Das sieht dann aus, als ob da ein Stuhl stände mit einem breiten Sitz und einer hohen Lehne.

Der Schäfer, der auf der Heide seine Schafe hütet, setzt sich mitunter darauf. Er ist mit allen Steinen vertraut; er kennt sie alle und hat ihnen Namen gegeben. Da liegt der „Napoleon“ (sein Großvater war mit nach Moskau), und nicht weit davon liegt der „Graf“. Aber am liebsten sitzt er auf dem „krummen Lassaulx“, der vor hundert Jahren drüben zu Adenau Oberförster war und dessen Sohn ihm einmal einen Taler geschenkt hat. Es ist nur schade, daß er bei seinem Ausruhen auf den feuergestählten Sitzflächen mit seinem breiten Hinterteil die schönen Flechten wegwischt, die sich dort bisweilen angehangen haben. Schwefelgelbe Flechten sind es, die sich wie Gliederfüßler mühselig fortbewegen, aber heimlich denken: „Wir kriegen dich doch!“ Oder es sind kreisrunde, weißgraue Scheiben, die wie ein fein gemustertes Filetdeckchen vom schwarzen Untergrund sich abheben. Den Basaltblöcken wird es schon recht sein, daß der Schäfer sie von den lästigen Gebilden befreit, wie die Ungeziefer an ihnen jucken. Aber die Flechten sind zähe und besitzen Ausdauer. Und ob sie nicht eines Tages, vielleicht erst nach viertausend Jahren, sie doch noch bezwingen werden, daß auch die unverwüstlichen Wacken vergehen müssen und so auch zum Gleichnis werden wie alles Vergängliche? -

In der Dämmerstunde und in den Vollmondnächten, dann werden die Steine lebendig. Dann merkt man, daß sie aus der Hölle stammen. Da sitzt auf jedem Block ein toter Schäfer, die kleineren werden zu unheimlich kläffenden Hunden. Dort will der alte Schreff, der zu Lebzeiten ein Werwolf war, sich einen Felsklotz auf die Schulter laden. Und hinter den größten Findlingen ragen die Hörner der „Böcke“ hervor, der Söldner des Erzbischofs Ruprecht von Köln, deren Blut in der Dienstagnacht auf Allerheiligen anno 1468 hier die Heide färbte. Als der Wächter von der Burg zu Ulmen die zehnte Stunde blies, überfielen sie hier den Grafen Wilhelm von Blankenheim und dessen Schwager, den Herrn von Virneburg. Graf Wilhelm fiel unter der Mörderhand und liegt dort als Stein; aber auch zehn der „Böcke“ verbluteten in der Heide. Nur der Virneburger schlug sich durch in der schrecklichen Novembernacht.

Von all diesen Dingen erzählen nun dort die Leute an den langen Abenden am knisternden Herdfeuer, und so sind die Steine der Heide ihnen genau so Nahrung wie das schwarze Buchweizenkorn.







Aus: Eifelvereinsblatt Nr. 1, Januar 1929, S. 29, herausgegeben vom Eifelverein 27. Jahrgang, Selbstverlag des Eifelvereins, Schriftleitung Rektor Zender in Bonn, Münsterschule.


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