Die Karolinger und
die Eifel
Von Dr. Franz Cramer
Als beim Tode des Kaisers
Augustus die Legionen am Rhein meuterten und in der Garnison Cöln,
der Ubierstadt, sogar die Familie des Heerführers Germanikus
selbst bedrohten, da entschloß sich, so berichtet uns Tacitus,
im Augenblick höchster Gefahr die Gemahlin des Feldherrn, die
edle Agrippina, zur Flucht, besonders auch zur Rettung ihrer im
zartesten Alter stehenden Kinder. Ins Gebiet der Treverer,
also in Innere, in die schützenden Waldgebirge des
Rhein-Moselgebiets, flüchtete die Prinzessin; in ihrer
Begleitung, so wird ausdrücklich versichert, befanden sich nur
wenige Damen ihres Hofstaates. Von besonderer Reiseausrüstung
und starker militärischer Bedeckung ist nicht die Rede. Es muß
also eine wohlausgebaute und auf allen Strecken sorgfältig
überwachte und geschützte Heerstraße gewesen sein,
auf der die Fürstin ihres Weges zog. Zweifellos war es die
große, schon in der Frühzeit des Augustus ausgebaute
Straße durch die Eifel, die sie benutzte, und deren
Hauptstationen - Zülpich (Tolbiacum), Jünkerath
(Icorigion), Bitburg (Beda) usw. wir vor kurzem hier besprochen
haben.
Ein Glücksfall hat uns noch kürzlich beim heutigen Orte Nettersheim, in dessen Nähe die Straße vorbeilief, handgreifliche Zeugnisse einer dort stationierten Wegepolizei-Kommission in die Hände gespielt; es kam dort eine ausgedehnte Tempelanlage und darin eine große Zahl Weihinschriften kaiserlicher Militärbeamten mit Offiziersrang (sog. beneficiarii) zutage.
Wie hier, so war auch anderswo, besonders an wichtigen Straßenknotenpunkten, z. B. in Trier, der Straßenverkehr sorglich geregelt. Schon dies allein vermag uns einen Einblick zu gestatten in die alte Bedeutung unseres eigenartigen Gebirgslandes. Von allem andern abgesehen - seinen Bodenschätzen, dem Waldreichtum, der Anbaufähigkeit - war es gerade als Mittelland des Handels und Verkehrs von Süd nach Nord, zwischen den blühenden Provinzen des gallisch-römischen Rhone-Saone-Gebiets und dem Niederrheine wichtig, der auf seinen Fluten die Handelsgüter weiter zu den wohlangebauten Gebieten des nördlichen Flachlandes tragen mochte. Als dann gerade rings im Umkreis der Arduenna silva, eben jenes wichtigen Gebietes von der Maas zu Mosel und Rhein, die Stammlande des fränkischen Reiches sich entfalteten und die römische Erbschaft dem Germanentum zufiel, da war es ein ganz natürlicher Vorgang, daß der beherrschende Geist des gewaltigen Schöpfers, Karls des Großen, in einem der Ardennenorte, zu Aachen, dem römischen Aquae Granni, seinen Thron aufschlug. Nicht bloß eine unbestimmte, romantische Vorliebe für die alten Heilquellen, sondern vor allem planmäßiges Aufnehmen altererbter, nie ganz zerrissener Fäden der römischen Kultur war es, das den weitblickenden Herrscher und Staatsmann leitete. Aachen war ein Sammelpunkt wichtiger und zahlreicher Verkehrswege, die das welsche Neustrien mit dem germanischen Austrasien verbanden.
Die mittelalterlichen Jahrbücher werden nicht müde, von den Jagden zu erzählen, die die karolingischen Kaiser in dem Ardennenwalde - zumal in seinem Westflügel, eben in unserer Eifel - unternehmen. Aber nicht bloß die trefflichen Jagdgründe, die echt germanische Freude des Weidwerks, lockten immer wieder dorthin. Ein kulturfrohes Schaffen gab es dort, und selbst bis ins Herz des Gebirges hinein - dort, wo scheinbar die Außenwelt am fernsten lag, - reichten die Wellen dieser volkswirtschaftlichen Strömung, deren Einflüsse immer noch nicht genug gewürdigt sind.
Wie Karl der Große auf den Grundmauern einstiger Thermen sein Münster aufbaute, so pflanzte sein jüngster Sohn Ludwig, bei aller Frömmigkeit ein leidenschaftlicher und geübter Jäger und Liebhaber der Bärenjagd, im Ardennenwalde, beim heutigen Cornelimünster die Überlieferung einer ererbten Kultur fort, indem er bei der Stätte einer gallisch-römischen Siedlung und Tempelanlage (von deren Ausgrabungen wir neulich erzählten) die klösterliche Niederlassung des hl. Benedikt von Aniane tatkräftig förderte. Aus dem Aachener Chorschatze schenkte er der Kirche seiner Lieblingsstiftung kostbare Heiligtümer. Von diesem Münster erhielt die mittelalterlich fromme Gründung ihren Namen; aber übel beraten wäre, wer da glaubte, dort sei vorher nur Urwald und Öde gewesen; die Chronisten selber merken an, der alte Name des Ortes sei Inda gewesen, übereinstimmend mit dem Klang des Baches, an dessen Ufer er anstößt; und wirklich werden heute vom Lichte des zwanzigsten Jahrhunderts wieder die Reste eines Dorfes beschienen, das auf benachbarter Höhe schon von den Heiden der Urzeit gegründet und besiedelt war; der Spaten hat auch - ein ganz seltener Glücksfall - gleich den alten Namen des Ortes, den wir z.B. bei der Saalburg noch schmerzlich vermissen, ans Tageslicht gebracht. Varnenum hieß er in gallisch-römischer Zeit. Bemerkenswert aber ist, daß die karolingische Gründung im friedlichen, wohlangebauten Tale sich birgt, während die vorgeschichtliche, abe bis in die Römerzeit hinein fortgesetzte Siedlung nach altgallischer Weise sich auf trutziger Höhe erhebt. Als dann die Römerherrschaft dahinsank, da blieben doch zunächst die Dorfgenossen dort oben, und als Wahrzeichen der ältesten Vergangenheit steht noch heute die einstige Pfarrkirche des Orts, in ihrem alten Turme gespickt mit Skulpturresten des Altertums, beherrschend oben am Rande des Berghangs, unmittelbar an einer der frühgeschichtlichen Verkehrsstraßen, die von französisch-belgischen Boden her durch die Eifel zum Rheine führten.
Und wie hier, so an zahllosen Stellen des weiten Berggebiets! Nicht bloß um die große Pfalz Aachen gruppierten sich die vielen karolingischen Königshöfe (villae regiae); die Wirtschaftsordnung des größten der Karolinger, das Capitulare des villis, ward ebenso eifrig an vielen Stellen der Eifel gepflegt und befolgt. Und vielfach nahmen gerade hier die Kulturträger in der Kutte das Werk des großen Kaisers in ihre Hand, vor allem zu Prüm, am gleichnamigen Fluß uralten Namens. Auch hier ein Aufbauen auf alter Grundlage! Denn das ganze Prümtal wie auch das ihres Zuflusses, der Nims - Ausonius nennt sie nemesa - steckt voll von Resten aller vorfränkischen Perioden! Aber nicht erst zu Karls Zeiten, sondern schon mehrere Menschenalter vorher hatten seine erlauchten Vorfahren hier ihre kolonisatorische Tätigkeit entfaltet und Kloster und Kirche gegründet. Die Weihe eines größern Neubaues beehrte dann im Jahre 799 Karl der Große selbst durch seine Gegenwart, und die kirchliche Weihe geschah durch niemand anders als Papst Leo III., denselben, der im Jahre darauf dem großen Franken die römische Kaiserkrone aufs Haupt setzte. Wenn der streitbare Herrscher mitten aus den Mühen des damals noch wütenden Sachsenkrieges zu diesem kirchlichen Weihefest im Ardennenwalde erschien, so mag schon daraus die Bedeutung des Ortes erhellen. Die reichen Schenkungen an Heiligtümern und weltlichen Besitz bezeugen das gleiche. Wie Karl selbst im Aachener Münster seine Ruhestätte fand, so sein Enkel, Kaiser Lothar I., in der Abteikirche zu Prüm. Es ist bekannt, wie er in seinem letzen Lebensjahre (855), der überschweren Bürde satt, die Krone mit der Kutte vertauschte: sein Grabmal prangt heute, in den ersten Jahren des neuen Deutschen Reiches prächtig verjüngt, im Chore der weiträumigen Rokokokirche, die im 18. Jahrhundert an die Stelle des alten Gotteshauses trat.
Glänzende Namen wissen die Prümer Jahrbücher zu nennen: den tatkräftigen dritten Abt Marquard, den heiligen Wandelbert, den Geschichtsschreiber Regino, den klugen, durch sein Verwaltungstalent hervorragenden Caesarius. Prüm wetteiferte als Reichsabtei an Glanz und Macht mit St. Maximin vor den Toren der alten Augusta Treverorum. Zu der Eifel selbst wie ringsum im begrenzenden Flachlande nannte Prüm zahllose Güter und Höfe, Wälder und Weinberge sein eigen. Die wichtigste Schöpfung in der Eifel selbst, noch zur Zeit Ludwigs des Frommen, war das neue Monasterium im Tal der obern Erft, das heutige Münstereifel, dessen Pfarre und Stiftskirche in ihren ältesten Teilen noch in die Gründungszeit zurückreicht. Das ehemalige Monasterium lag am Schnittpunkte zweier uralter Verkehrswege; an einem der vier Tore, die als Zeugen mittelalterlichen Lebens noch aufrecht stehen, kamen vor einigen Jahren römische Grundmauern und goldene wie bronzene Münzen gleicher Herkunft zutage. Unweit der Stelle liegen die beherrschenden Schloßruinen aus der Zeit der Jülicher Herrschaft; weit älter aber als diese Feste ist eine gewaltige Burganlage weiter den Berghang hinauf, die ebenfalls noch ihn die Tage der Karolinger hinaufreicht; eine Münze Ludwigs des Frommen, die im Gemäuer sich fand, spricht dafür. Ja es ist wahrscheinlich, daß es dieselbe Burg ist, die im Jahre 882 bei dem furchtbaren Normanneneinfall den Prümer Mönchen als Zufluchtsstätte diente.
Die glänzende Doppelabtei Malmedy-Stablo weist noch weiter in die Reihe der Jahrhunderte, in die merowingische Periode, zurück. Ja, die keltoromanischen Namen der beiden Orte - Malmundarium und Stabulacum - erzählen uns noch von weit älteren Bevölkerungsschichten. Aber gerade in den Zeiten seit Karl dem Großen entfaltete sich die Stiftung des hl. Remaklus zu vollster Blüte und größter Macht. Umgekehrt gehören andere wichtige Klostergründungen der Eifel einer späteren Zeit des Mittelalters an, so vor allem die Perle des romanischen Stils am Rhein, Maria Laach in der Nachbarschaft des fruchtbaren Maifeldes, dann Himmerode als ein Denkmal des Glaubenseifers des heiligen Bernhard, endlich Steinfeld, der kulturelle Mittelpunkt des Urftgebiet. Aber merkwürdig - sie alle liegen auf Höhen, die sämtlich auch die lebhaftesten Spuren fränkischen und besonders karolingischen Einflusses aufweisen. Die weiten Stollen der Lavabrüche im Bereich des Laacher Sees, die römischer Unternehmungsgeist in das dunkle Gestein getrieben, wurden gerade seit Karl dem Großen wieder lebhafter ausgebeutet, wie gefundene Münzen und Werkzeuge beweisen. Das Tal der Salm, der römischen Salmona, die der Lobsänger der Mosella in einem Atem mit ihrer Nachbarin, der Lesura (Lieser) nennt, war von der Urzeit an ununterbrochen - nach Ausweis der Siedlungsreste - bebaut und bevölkert gewesen. Ganz das gleiche gilt für die Gegend um Steinfeld, wo besonders der uralte, schon von der Kelten betriebene Bergbau immer wieder zu neuer Arbeit lockte.
Den werktätigen Einflüssen klösterlicher Kulturarbeit eiferte man anderwärts nach, besonders der rasch erstarkende Adel, und gerade die Eifel kennt überraschend zahlreiche Adelsgeschlechter, entfaltete, wiederum anknüpfend an ererbte Überlieferungen, eine reiche volkswirtschaftliche Tätigkeit. Besonders das Kylltal, das von norden her auf Trier zu die Eifel schneidet, weist heute in seinem Gebiete noch zahlreiche Spuren dieser Entwicklung auf. Die Herren von Castel machten sich die günstige Lage eines römischen Kastells, an der Stelle der heutigen Kasselburg, zunutze, und drunten im Tale, bei Gerolstein, wo die jüngste Zeit eine reich ausgestaltete römische Villa aufgedeckt hat, begann gerade von der karolingischen periode ab wieder eine gesteigerte Siedlungstätigkeit; des sind Zeugen die vielen keramischen Reste, Waffen und charakteristische Schmucksachen, die aus zahlreichen Grabfunden uns entgegentreten. Bei Kyllburg, dort wo eine Schleife des tief in den Buntsandstein eingeschnittenen Flusses eine natürliche, schon von den Galliern ausgenutzte Festung und dazu ein anmutiges Landschaftsbild geschaffen, bezeugen schon die im Dunkel der Zeiten sich verlierenden Pfarreigründungen die steigende Entwicklung in fränkischer Zeit; ganz ebenso reichen die erhaltenen urkundlichen Zeugnisse der Adelsgeschlechter im ganzen Umkreis, die Manderscheider nicht ausgenommen, in die Zeiten der karolingischen Herrscher zurück.
Und um so dichter, um so beredter werden die Spuren und Zeugnisse fränkischer Tatkraft und Größe, je weiter sie die Kyll abwärts gen Trier vordringen, den geistigen Brennpunkt der ganzen Südeifel. Kurz erinnert sei ein Speicher (ein römisches Spicarium), wo damals die in ältester Vorzeit überlieferte Tonindustrie sich wiederbelebte, an Cordel, dessen Steinbrüche, von den Römern einst fleißig ausgebeutet, wieder von dem Pickel karolingischer Werkleute widerhallten. Trier selbst aber, dessen kirchliche und weltliche Schatzkammern heute noch einer glänzenden Lobrede auf die fränkische Kleinkunst gleichkommen (hier die einzige Ada Handschrift sei genannt), beweist jedem, der sehen will, wie Karls des Großen Zeit nicht bloß auf dem Gebiete des Schrifttums, zumal in unserer Westmark den kräftigsten Aufschwung brachte. Wie es keine bloße Herrscherlaune, kein Spiel des Zufalls war, wenn der große Kaiser im Kreis der heißen Ardennenquellen sich niederließ, so war auch die Rückwirkung auf unsere Eifel nicht einem vorüberhuschenden Schatten gleich, sondern eine Kulturtat ersten Ranges. Daß aber das Eifelland solcher Entwicklung fähig war, daß die ausgestreuten Keime in herrlicher Saat aufgingen, das ist für uns heute ein glückverheißender Ansporn, nicht zu erlahmen in den Mühen um unser abermals zu neuer Blüte erwachendes Bergland.
Entnommen: Eifelvereinsblatt 1911
Sammlung Hans Regh, Kreuzweingarten