Die Vordereifel



Geschichtliches und Wanderungen von Joseph Pesch - 1901





Der Kindesmord


Nach einer Sage im Kreise Euskirchen.
Gedicht von Böning, Weiland Pastor in Weingarten, später Wesseling. *)



I. Das Mädchen von Kalkar


„Mein Kind, ach ! Annchen, bleibe zu Haus, geh' nicht in die dunkle Nacht hinaus !
Dein Bräutigam, dein treuer Franz, er führt dich nicht zum Kirmestanz:
Er liegt ja krank darnieder und kann nicht regen die Glieder."

„Ei, Mutter,“ erwidert die die schöne Maid, „du weißt, das tut mir herzlich leid.
Ich hab; ihn gepflegt nach bräutlicher Pflicht; doch heut ist Kirmes:
Drum will ich nicht, wenn andre munter es treiben, allein vom Tanze weg bleiben."

Die Mutter warnt, die Mutter droht, vergebens doch ist ihr Verbot;
Denn Anna streicht ihr schwarzes Haar und ihrer Wangen schmuckes Paar,
zur Tür hinaus sie schleicht und in die Nacht entweichet.

"Mein Kind, ach ! Anna, kehre zurück! Verscherze nicht dein eigenes Glück !
0 ! daß ich dich strafte als Kindlein klein, du würdest jetzt gehorsam sein !"
So hört man die Mutter klagen bis Mitternacht hat geschlagen.

Zu Arloff auf dem freien Plan 1) da stoßen die Zecher mit Gläsern an;
da tanzen bei Laternenschein die Burschen und Mädchen den muntern Reih'n,
nach Geigen und Flötenklingen sie munter und fröhlich springen.

"Was ist das für ein prächtiges Paar ? Das Mädchen mit glänzend schwarzem Haar ?
Doch an dem holden Angesicht erkennst du Annchen von Kalkar nicht ?
Dem schönsten Burschen zur Seite, gar vielen, traun ! zum Neide. "

Sie drehn sich rasch, sie wirbeln fort, sie stehen still am einsamen Ort;
er flüstert so süß, er flüstert leis, und Annchen, ach! es selbst nicht weiß,
wie ihr das Herz verdorben, für Scham und Tugend erstorben.

Als Mitternacht vorüber war, da strömt die lustige Tänzerschar mit
lautem Jubel und Sing und Sang und unter fröhlichem Hörnerklang
nach Haus, um sich zu laben 2) an kirmesfestlichen Gaben.

Nur Anna, Anna weilet so lang, bis früh vom Berge die Sonne drang;
Da macht sie sich auf: sie eilte schnell, daß ungesehn sie kommt zur Stell,
und sinket aufs Bett ermattet, die Augen trüb umschattet.

So schlafe nur, du lockre Maid ! Denn dich erwartet schweres Leid:
du hast der Lust in dieser Nacht zum Opfer Glück und Heil gebracht.



II. Das Verbrechen


Draußen wehen Frühlingslüfte, Bäume blühen rot und weiß,
Spenden zarte, süße Düfte, Vöglein zwitschern sanft und leis;
doch in einsam dunkler Kammer sitzt Anna voller Jammer.

Mit dem Frühling ganz genesen war ihr guter, treuer Franz;
gern hat er es längst vergessen, daß sie ging zum Kirmestanz;
denn sein Herz voll inniger Liebe fühlt für sie die stärksten Triebe.

Bald nach Ostern will er zieren schön die Stirne seiner Braut,
will sie zum Altare führen, daß sie ihm ward angetraut.
Ach! er ahnet nicht die Schrecken, die aus süßem Wahn ihn wecken.

Und die Mutter hat gesponnen Garn zu Linnen recht und fein,
hat den Brautschatz schon gewonnen für ihr schmuckes Töchterlein.
Stehet oft zur Augenweide vor der Truh, mit stolzer Freude.

Eins nur macht ihr schweren Kummer; Anna ist so bleich und matt,
fährt aus unruhvollem Schlummer Nachts empor und weint sich satt;
auf der Mutter bange Fragen keine Antwort, keine Klagen.

Will das Haus nicht mehr verlassen, will nicht mehr zur Kirche geh'n;
Meidet ängstlich alle Straßen, daß von niemand sie gesehn:
mag nicht wirken, mag nicht schaffen, mag nicht essen, mag nicht schlafen.

Doch der Nachbarn scharfe Blicke haben bald den Grund durchschaut;
manche weih'n dem Mißgeschicke Mitleid, andre spotten laut.
Franz mit Mutter ohne Wanken glaubt, sie werde schwer erkranken.

Finstre Pläne im Gemüte, grübelt Anna Tag für Tag,
wie die Schande sie verhüte, welche folgt der Sünde nach.
"Bring es um !“ es heimlich flüstert in der Seele ganz verdüstert.

Als die Nacht die Erd umfangen, aus der Tür das Mädchen schleicht;
unter Schrecken unter Bangen sie den Fluß der Erft erreicht.
An dem Ufer sinkt sie nieder, schließt erschöpft die Augenlider.

Welch entsetzliches Erwachen !
Daß ihr Mark und Blut gerinnt, hört sie Geister tückisch lachen,
sieht zu Füßen jetzt ihr Kind, grob erfaßt von Wahnsinns Gluten
schleudert sie es in die Fluten.

Von der Sünde zum Verbrechen führt oft nur ein einzger Schritt.
Ach ! wie furchtbar wird sich rächen deines Leichtsinns erster Tritt !



Das einsame Grab.


Dort drüben in dem Walde, da steht die Burg zur Hardt,
wo manchem, ach, zu balde der Tod entgegenstarrt; 3)
dort sitzen heut beisammen der Vogt und Schöffenrat,
durch Urteil zu verdammen die grauenvolle Tat.

Es öffnen sich die Türen am alten Turm sogleich,
daraus man lässet führen ein Mädchen stumm und bleich.
Man hielt sie dort gefangen, weil viel der Zeugen sind,
daß sie den Mord begangen am totgefundnen Kind.

Mit Zittern und mit Beben sie vor Gericht erscheint:
Befragt auf Tod und Leben, sie nicht die Tat verneint.
Da hebt der Vogt zu sprechen mit ernster Miene an,
zu strafen das Verbrechen, er also streng begann:

"Du bist des Todes schuldig, das siehst du selbst wohl ein!
Drum, Anna, trag geduldig, die wohlverdiente Pein !
Am Galgen sollst erleiden du bald den sichern Tod,
jedoch vor deinem Scheiden versöhne dich mit Gott ! "

In Annas Ohren sausets, ihr Atem sich verkürzt;
In ihrem Herzen brausets, daß jäh sie niederstürzt.
Man trät sie rasch zurücke zum altersgrauen Turm:
Da schlägt sie auf die Blicke und krümmt sich wie ein Wurm.

"0 Mutter, ach, du Arme! Wie hast du mich geliebt!
Daß Gott sich dein erbarme und Trost im Leiden gibt!
Und welche bittren Schmerzen mag Franz empfinden jetzt,
den ich im tiefsten Herzen so treulos hab verletzt."

"0, hätt ich nie verlassen den Pfad der Frömmigkeit,
dann müßt ich nicht erblassen am Pfahl, der Schmach geweiht!
0 großer Gott, sei gnädig mir armen Sünderin,
daß nicht des Trostes ledig ich möge scheiden hin !"

So dringen ihre Klagen gar schaurig durch die Nacht,
bis man nach drei Tagen zum Galgen sie gebracht.
Man scharrte ihre Leiche am Galgenberge ein
bei Billig an der Eiche da ruhet ihr Gebein.


Anmerkungen

*) H.R.: Ein Pastor Böning war als Geistlicher in Weingarten nicht tätig; es gab jedoch einen Pastor Boehning in Antweiler, der zeitweilig (1856) Schulpfleger in Weingarten war.

1) Die Dörfer Kalkar und Arloff hatten bis vor wenigen Jahren, obgleich sie nicht derselben Pfarre angehören, gleichzeitig Kirmes, nämlich am Sonntage nach Bartholomäus.

2) Es war allgemein Sitte, daß die Mädchen nach vollendetem Tanz, sogar mitten in der Nacht, die Burschen mit Weck und anderen Leckerbissen bewirteten.

3) Auf der Hardtburg war bis zu den Zeiten der französischen Revolution das hochnotpeinliche Halsgericht und zugleich das Gefängnis für die zum Tode verurteilten Verbrecher.


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