Fünf Madonnenfiguren im Euskirchener Land

Von Bernhard Berkenfeld

Nachstehende Arbeit will nicht alle hervorragenden Darstellungen der Gottesmutter im Kreise Euskirchen behandeln. Sie will nur an einigen besonderen Beispielen die verschiedene Art der religiös-künstlerischen Auffassung dem Beschauer oder dem Leser nahebringen. Sie spricht ferner von fünf Madonnen, obschon seit der völligen Räumung von Schloß Gracht im Jahre 1956 sich heute nur noch vier der genannten Madonnen in unserem Kreise befinden. Wir glaubten, die Grachter Madonna der - in dieser Fassung zum Zeitpunkt der Räumung bereits vorliegenden - Darstellung trotzdem belassen zu dürfen. (Die Schriftleitung)

Man kann die Weisen und Gedichte nicht zählen, die das Lob der hohen Frau singen. Und immer noch nicht ist das Lied zu ihren Ehren ausgesungen, so viel auch ein Jahrhundert mit dem anderen eiferte um die schönste und zarteste Melodie. Damit auch das Auge sich erfreue am Bild Mariä, schufen die Meister unübersehbar Werke und Wunder aus Form und Farbe. So unausschöpfbar bleibt der Kunst ihre Person, daß ein jedes Bildwerk einen neuen Zug ihres Wesens, eine neue Blüte ihres Herzens offenbart, die noch nicht entdeckt worden waren.

Freilich, man muß solch ein Marienbild mit den Augen liebend umfassen, wenn man die Absicht des Künstlers erkennen will, Das ist wohl schwer, das Auge in der Bilderschwemme der Gegenwart zum Verweilen zu zwingen. Doch sind die Kunstwerke unserer Heimat für uns geschaffen; die Meister haben sie zu unserer Erbauung aus dem Holz gestaltet. Sie wollen betrachtet und erkannt werden. Fünf Marienfiguren habe ich ausgesucht. Fünf Jahrhunderte zeigen uns, wie sie die Jungfrau aller Jungfrauen Krone sahen. Fünf Stufen künstlerischer Entwicklung zeigen uns etwas von dem Geist der Marienminne unserer Heimat.


Die Madonna im Kloster Zülpich-Hoven
entstanden um 1170 1).

Lassen wir uns zunächst vor die älteste Marienfigur unseres Landes führen, vor die Madonna von Zülpich-Hoven. Sie ist als berühmte Plastik des 12. Jahrhunderts der Stolz unserer Heimat und verdiente, die Patronin des Kreises Euskirchen genannt zu werden. Zweifelnd sucht man das Bildwerk ab, ob man denn etwas Liebenswertes und Anziehendes an ihr entdecken könnte. Wir vergleichen das strenge Bild vor uns im stillen mit den anmutigen Madonnenbildern späterer Zeit. Nichts von der Schönheit und Lieblichkeit, die wir von einem Bild Unserer Lieben Frau erwarten. Wir fragen, was denn an er „primitiven“ Hovener Madonna kunst-voll zu nennen sei.


Die Madonna von Zülpich-Hoven
Foto: Bildarchiv, Rheinisches Museum, Köln

Denken wir acht Jahrhunderte zurück. Erst in der Mitte des 12. Jahrhunderts beginnt die Geschichte der deutschen Bildhauerkunst. Bis dahin kannte unser Volk keine selbständige Gestaltung von Bildwerken. Nun setzen in der Zeit der Heldengestalten eines Friedrich Barbarossa und eines Bischofs Rainold van Dassel einzelne Bildschnitzer das Messer an, um aus einem Holzklotz die Gestalten des christlichen Glaubens herauszuschneiden. Welche Absicht treibt sie? Sie wollen sichtbar machen, was der Glaube lehrt: Daß die Welt ein Gefüge göttlicher Ordnung ist, in der die ewigen Gesetze herrschen; daß diese Welt in die christliche Heilsgeschichte hineingestellt ist, daß Christus sie erlöste; daß der Herr von einem Weibe geboren wurde. Noch werden die Wahrheiten des Glaubens nicht mit verfeinerter, sensibler Spekulation durchleuchtet. Die allgemeinen Gesetze des göttlichen Heilsplanes werden gelehrt und erkannt. Diese allerdings mit einem hohen Grad an Geistigkeit, - mit einem so hohen Grad an Geistigkeit, daß wir heutigen Menschen diese Abstraktion vom Stofflichen kaum nachvollziehen können.

So wird auch die Lehre von der Gottesmutter ins Allgemeine, ins „Begriffliche“ gehoben. Nicht die Schönheit des jungfräulichen Mädchenbildes der Maria interessiert den Bildhauer und den Christen von damals, sondern die geistige Bedeutung ihrer Person im christlichen Heilswerk. Was konnte der Künstler anderes schaffen als ein Werk abstrakt-geistiger Bedeutsamkeit, die alles nebensächliche wegläßt! Kaum wird der Körper unter den strengen Falten des Gewandes spürbar. In scharfer Silhouette und in scharfen Linien wird einfach und klar ausgesagt: Geboren aus Maria, der Jungfrau. Hier Maria, dort Jesus - das ist der Inhalt der Heilsordnung. Kein menschliches Hinneigen der Mutter zu dem Kind, keine seelische Verbindung zwischen beiden. Das wäre eine Vermenschlichung, die dem Glauben der damaligen Menschen nicht entsprach. Spätere Kunstübung gab dieser rein menschlichen Beziehung zwischen Mutter und Kind in ihren Madonnenbildern oft allzusehr Raum.

Vergleichen wir noch einmal die späteren Madonnenbilder in ihrer rührenden Mütterlichkeit mit der Darstellung der Hovener Madonna. Jene fließen über von Innigkeit und Schönheit, diese hier wirkt in ihrer Strenge abweisend. Dort sehen wir die Bilder eines heiligen Mädchens, das wirklich gelebt haben könnte - ja, oft erscheint es uns in der Tracht der damaligen Zeit, als wollte es der Künstler uns mit allen Mitteln nur recht menschlich nahe bringen; hier aber erscheinen Materie und Form ins Geistig-Ferne gerückt. Dort Weichheit, Wirklichkeitswiedergabe, Illusion und geschichtliche Gestalt; hier Strenge, Symbolhaftigkeit, Monumentalität und Gesetzmäßigkeit. Die geistige Erhebung durch das einzigartige Hovener Bild wird erreicht, weil der Künstler auf jede realistische, illusionäre Durcharbeitung verzichtet hat. Und das entspricht der konstruktiven, ordnenden Einstellung des mittelalterlichen Menschen. Der heroische Geist dieser Zeit kann nur herbe Monumentalität schaffen.

Nun wundert man sich nicht mehr, daß es dem Menschen unserer Zeit schwer ist, Zugang zu solchen Gestalten zu finden, die uns wie Götterbilder aus der Urzeit anschauen. Lassen wir uns von dem Geist der Ordnung anwehen, und wir werden beglückt erkennen, wie sehr unser Herz mit „hohem Mut“ und hochgemut erfüllt wird. Wir sind stolz darauf, daß unsere Heimat durch dieses verehrungswürdige Madonnenbild beteiligt ist an dem Aufstieg der deutschen Bildhauerkunst. Es strahlt mit seiner starken Linien- und Umrißbetonung seine Kraft noch heute in die Menschen, wenn sie sich bemühen, in der Beschränkung auf das Wesentliche, die alles Nebensächliche und Verniedlichende wegläßt, einen Gewinn und nicht einen Nachteil zu sehen.


Die Madonna in Hausweiler
entstanden um 1200.

Haben wir den Geist der Madonna von Hoven recht empfunden, so werden wir uns leichter in das zweite Bild einfühlen können. Wir stehen in der Zeit des Franz von Assisi und des Minnesängers Hartmann von Aue, als die Hausweiler Madonna entstand. Ein Frühlingsatem zärtlicher Empfindsamkeit mildert die Strenge der vorhergehenden Kunst. Noch zwar thront die Madonna in ferner Hoheit, gerade sitzt sie auf dem Sessel, gerade sitzt das Kind auf ihrem Schoß, die Arme sind steif abgewinkelt. Aber über aller Abstraktion liegt doch ein Zug von Lieblichkeit. Wir merken es an der runden und weichen Form des Kopfes, der Schultern und der Arme, an dem weichen Fall des Haares. Die Härte beginnt zu weichen. Der Kopf der Jungfrau neigt sich ein wenig.

Denken wir zurück an die Entrücktheit des Hovener Madonnenkopfes, und wir spüren, was in den Jahren geschehen ist. Es ist, als kehre die Gestalt aus einer Ekstase langsam zum Leben zurück. Eine leichte Annäherung an die Natur stellen wir fest, und das macht, daß sie lebendiger erscheint. In Hoven empfanden wir nur Zeichenhaftigkeit, hier fühlen wir, daß ein Körper erkennbar wird. Das ist wichtig zu betonen, weil sich darin die Anfänge des plastischen Stils vorbereiten. In Hoven war nur Linie und Umriß, in Hausweiler ist Rundung und beginnende Plastik.


Die Madonna in Hausweiler
Foto: A. Hoss

Die Gebundenheit und streng geistige Ausrichtung der vergangenen Zeit beginnt sich aufzulösen durch leichte Gefühlsbetonung. Wenn wir auch noch weit entfernt sind von den uns bekannten lieblichen Madonnenbildern, so erscheint uns die Hausweiler Madonna doch menschlich näher als die Gottesmutter von Hoven. Ich sagte schon, daß unsere Plastik in einer Zeit entstand, welche die Welt mit offenen Herzen aufnahm. Diese weltoffene Haltung spiegelt sich in der Gefühlsbetonung wider, die in der Plastik erkennbar wird. Die straffen Falten, die noch die Hovener Madonna zeigte, beginnen sich am Saum der Kleider leicht aufzubauschen. Auch darin zeigt es sich, daß der Künstler das Bestreben hat, in die Tiefe zu gehen, in die dritte Dimension, in die Plastik. Das bedeutet Abkehr vom rein abstrakten Symbol.

Alles das sind aber vorerst nur Andeutungen und noch keine vollkommene Plastik. Der Zwang formaler Gebundenheit bleibt weiterhin bestimmend. Dazu stehen die Künstler auch im Augenblick noch unter dem Einfluß orientalischer Kunst. Es ist die Zeit der Kreuzzüge. Erst dreißig Jahre später, als es sie zu den Kunstzentren Frankreichs treibt, lösen sie sich von dem byzantinischen Vorbild los, um die eigene abendländische Sprache wiederzufinden.

Trotz der besagten Wandlung zur Rundung und zum Gefühlsausdruck hin zeigt auch die Hausweiler Madonna nur ein Mindestmaß an gegenständlicher Schilderung. Sie ist kein eindeutig bestimmbares Individuum, eine Gestalt ohne geschichtliche Deutbarkeit. Ein Rest an Zeichenhaftigkeit und Wirklichkeitsferne bleibt bestehen, um dessentwillen wir die Schwester der Hovener Madonna hoch schätzen als ehrwürdiges Zeugnis aus der mittelalterlichen Frühzeit.


Die Madonna auf Schloß Gracht
entstanden um 1400 2)

Nun sehen wir uns das gotische Klappaltärchen an, das bis in die jüngere Zeit auf Schloß Gracht aufbewahrt wurde. In seinem Mittelstück steht ein kleines silbernes Madönnchen. Wir müßten schon recht gefühllos sein, wenn wir nicht auf den ersten Blick von dem Zauber und der Anmut der Figur gefangen würden. Das wundert mich nicht, denn zwischen der Entstehungszeit der Hausweiler Madonna und der Grachter Madonna liegen rund 200 Jahre. Wie ernst und fern wirkten die beiden ersten Plastiken, und wie geschmackvoll und preziös wirkt die kleine Madonna vor uns! Die Falten bei der ersten Figur schienen mehr hingezeichnet wie Striche; hier aber umfließt ein weiches gerafftes Gewand einen spürbaren menschlichen Körper. Ist dieses Bild der Gottesmutter nicht natürlicher gestaltet? Aber in diesem Natürlichen welche Weichheit! Kein harter Bruch läßt das Gewand knittern, kein Knick stört den schmiegsamen Fluß des herabfallenden Kleides. Von der rechten Schulter fließt das Obergewand in schönem Bogen unter die Hand, die das Kind hält, und von dort aus gehen die Linien abwärts zum Boden. In diesem Bogen liegt sehr viel Eleganz.

Unter der Draperie ist ein wirklicher menschlicher Körper zu spüren. Nichts mehr von der Verflüchtigung des Körperlichen bei den alten Madonnen! Und gerade das Menschliche wichtig erscheint. Er kann es auch sagen, weil der Künstler in dieser Zeit um 1400 ein großes technisches Können beherrscht. Ja, das Können ist so virtuos, daß ich - oder täusche ich mich? - etwas Eitelkeit des Künstlers aus unserem Kunstwerk herauslese. Beinahe geht über der eleganten Haltung der Gestalt der demütige religiöse Sinn verloren. Nun, unser Madönnchen stammt aus Frankreich, dem Land, das ungleich empfänglicher ist für schöne, klassische Formen. Die Deutschen aber stellen gern den Inhalt über die Form.

Aber wir wollen nicht Land gegen Land ausspielen, besonders auch darum nicht, weil in dieser Zeit ja auch die deutsche Kunst das Menschliche und Natürliche stärker betont, wenn auch in ihren Werken bei allem Diesseitsgefühl ein starker geistiger und idealer Sinn beherrschend bleibt. Ihr ist die sinnliche Form ein Transparent für die übersinnliche Idee.

Um die Wandlung von der Jenseitshaltung der Hovener Madonna zur Diesseitshaltung der Grachter Madonna besser verstehen zu können, müssen wir uns erinnern, daß die Zeit des frühen Kaisertums und die Zeit des höfisch-aristokratischen Rittergeistes vor der Welt des vordringenden Bürgertums gewichen ist. Nicht mehr die Strenge der göttlichen Weltordnung in ihrer abstrakten Gesetzmäßigkeit beherrscht das Denken der Menschen, sie wollen vielmehr als persönliche Wesen in Frömmigkeit das göttliche Walten erleben. So sind auch die Madonnen dieser zeit nicht mehr Symbole der göttlichen Heilsordnung, sondern Individuen, die aber durch ihre religiöse Bestimmung über alle sichtbar gemachte Realität hinausgehoben sind. Das selbstbewußte Bürgertum will Erbauung, will Miterleben. Und so entstand das Grachter Klappaltärchen, das, wie viele andere Kleinkunstwerke dieser Zeit, nicht für eine Kirche geschaffen wurde, sondern der privaten Andacht diente.

Kann auch die französische Madonna nicht als Beispiel heimatlicher Kunst dienen, so meine ich, hat sie doch bei uns eine neue Heimat gefunden. Aber nicht nur deswegen habe ich sie hier beschrieben, sondern weil sie mir wichtig schien für die kommende künstlerische Entwicklung, und weil sie das Verständnis der folgenden Plastiken erleichtert.


Die Madonna in Weidesheim
entstanden um 1440

Die Weidesheimer Madonna mögen etwa 40 Jahre von der Grachter Madonna trennen. In dieser Zeit wurde vollendet, was um 1400 in der Plastik seinen Anfang nahm. Das Menschliche und Körperliche wird noch mehr betont. Die Figur lastet und steht fest auf der Erde. Das Gewand umhüllt weit den massigen Körper. Seitliche Faltengehänge fließen von der Hüfte herab. Der Figurenblock erscheint stark bewegt. Noch malerischer als die Grachter Madonna ist das Weidesheimer Bild. Doch die bloße Aufzählung dieser Charakteristischen Merkmale sagt uns noch nichts; wir müssen sie näher beschreiben.

Uns fällt im Vergleich mit der Grachter Madonna zunächst die Untersetztheit der ganzen Erscheinung auf. Der Kopf scheint im Verhältnis zur Höhe der Figur sehr groß. Das Gesicht zeigt runde, etwas derbe Formen. Die edlen Maße der Grachter Madonna suchen wir vergebens. Es kommt hinzu eine ungewöhnliche Breite der Gewandmassen, die unsere Madonna plump erscheinen lassen. Ist es nicht, als hätte der Künstler sagen wollen: Nun aber Schluß mit den hochgezüchteten, dekadenten Mädchenfiguren; wir wollen eine Madonna mit Fleisch und Blut; eine, die zu uns paßt; eine, die mit beiden Füßen auf der Erde steht; Maria war wohl Mutter Gottes, aber gleichzeitig war sie ein natürlicher Mensch!

Tatsächlich, so steht sie vor uns: ein gewichtiger kubischer Block. Nicht allein, daß sie von untersetzter Gestalt ist, darüber hinaus hängen die schweren Falten an ihrem Körper und ziehen ihn nach unten, und die Staufalten heften sich breit an den Boden. Von ferne erinnern wir uns angesichts der Faltenmassen und angesichts des unter dem linken Arm herabstürzenden Seitengehänges an barocke Figuren. Gleich wie dieser späte Kunststil malerisch genannt wird, so können wir auch die Plastik um 1430/40 malerisch nennen. Ich sagte, daß dieser malerische Stil schon um 1400 bei der Grachter Madonna seinen Anfang nahm. Hier aber ist er voll entwickelt.


Weidesheimer Madonna
Foto: Carl Brandt

Sinnenfroh und lebendig umhüllen die Kleider den fülligen Körper. Kein einheitlicher Bewegungsstrom durchflutet die Falten; sie kreuzen sich, springen auf und ändern die Richtung. Unser Auge geht unruhig über den Gewandblock hin und her. Beachten wir, daß das Kind nicht mehr aufrecht auf dem Arm sitzt, sondern nun quer vor dem Leib der Mutter liegt. Alles dies zeigt uns den ganz malerischen Ausdruck unserer Plastik, der die Überschneidungen liebt.

So hat der Künstler das Bild der Gottesmutter aus der ideellen Ferne herausgeholt und hineingestellt in den damaligen Bürgeralltag. Das mündig werdende Volk zur Zeit der Zunftherrschaft will unmittelbar Anteil nehmen an der Kunst - so muß der Künstler die Sprache des Volkes sprechen. Er tut es, indem er ihm die Magd des Herrn als Frau des Volkes zeigt, nicht in überfeinerter Geistigkeit, sondern natürlich gebildet. Doch die Wirklichkeitsnähe wird nicht so weit vorgetrieben, daß sich der geistige Gehalt darüber verflüchtigte. Sie bleibt immer noch ein Mittel zur Verdeutlichung seelischer Vorgänge. So massig und untersetzt der Körper der Madonna erscheint, er wird von noch gewaltigeren Gewandmassen verhüllt und gleichsam von dieser Welt getrennt. So derb und voll das Gesicht auf dem runden Hals steht, es strahlt doch Frömmigkeit aus und das Bewußtsein himmlischer Sendung.


Die Traubenmadonna aus Zülpich
entstanden um 1500

Der ehemalige Altar der Zülpicher Peterskirche zeigt uns die letzte der Madonnen, die ich ausgewählt habe. Könnten wir den ganzen Altar sehen, in dem diese Plastik steht, so müßten wir uns erst gewaltsam von den einzelnen Bildfeldern, in die der Altar aufgeteilt ist, lösen, um einzig und allein die Madonnenfigur zu betrachten. Dann aber würden wir sehen, daß sie durchaus ihre eigene und selbständige Bedeutung hat, obwohl sie doch nur ein Teil in einem großen Gesamt von vielerlei Darstellungen ist. Das ist eigenartig, daß in dem malerischen Spiel dieses Altarschreins eine einzelne Figur so sehr ihr eigenes, bedeutsames Leben führt, und daß sie sich recht selbstbewußt gibt. Das ist es, was bei der Betrachtung der Figur, zuallererst auffällt: das Madönnchen nimmt sich wichtig.

Es ist eine Wandlung der Gesinnung bei den Menschen dieser Zeit der Entstehung der Plastik eingetreten, und das drückt sich in der Kunst und auch in der kirchlichen Kunst aus. Wir stehen an der Wende von Mittelalter und Neuzeit. Man nimmt die Natur nicht mehr als die von Gott bestimmte Ordnung, sie wird vielmehr zum Gegenstand der Erkenntnis, des Studiums und des Urteils. Es ist, als ob der Mensch nun erst seine Würde entdeckt, da er der Wirklichkeit der Welt kritisch gegenübertritt. Spüren wir, welch anderes Lebensgefühl nunmehr den damaligen Menschen durchwaltet und prägt? Unsere Madonna lebt in einer Welt für sich, sie ist mit sich selbst beschäftigt. Sie ist sich ihres Wertes bewußt und drückt das in ihrer eleganten Körperhaltung aus: ein individueller Mensch. Nicht mehr von der hierarchischen Strenge früherer Zeit, und auch das Kind hat nicht mehr ein Menschenkind auf dem Arm der Mutter, die ihm eine Weintraube reicht. Sicher läßt sich das symbolisch deuten: die Traube als Zeichen des Blutes Christi. Doch zunächst einmal ist es ein natürlicher, „alltäglicher“ Vorgang.

Sehen wir auch, wie die Formen der Figur verfeinert sind, wie alles schärfer und richtiger erkannt wird. Der bürgerliche Mensch von damals will näher an das Kunstwerk heran, um es eingehender nacherleben zu können. Von der Entrücktheit der Schemen alter Zeit ist nichts mehr geblieben. Nicht die monumentale Fernwirkung wird gesucht, sondern das interessante Eigenleben der Dargestellten. Der Mensch ist frei geworden und entdeckt seine Individualität. Die Madonna ist nicht mehr Trägerin einer Idee und Verkörperung der Heilslehre, sondern eine Frau, die spielerisch und recht menschlich eine natürliche Situation darstellt. Hier zum erstenmal könnte man im modernen Sinne von einem „Kunstwerk“ sprechen.

Und doch ist eines geblieben: die Form, die sich noch so selbstgefällig vordrängt, sie bleibt doch Trägerin des Seelischen. Wir entziehen uns nicht leicht dem intimen, versonnenen Ausdruck. Wenn wir von der Selbstentdeckung des Menschen sprechen, so bedeutete das nicht, noch nicht, daß er der Hybris verfallen wäre. Er entdeckte mit sich selbst vielmehr die Wirkkräfte seiner persönlichen Seele. Die Schwingungen im eigenen Innern, das ist der Beitrag dieser Zeit zur Kunst. Es ist die Zeit Tilmann Riemenschneiders.


Die Traubenmadonna von Zülpich
Foto: Bildarchiv, Rheinisches Museum, Köln

Herübergenommen in die Neuzeit werden auch noch mittelalterliche Motive, die wie eine Erinnerung wirken an gotische Madonnen. So ist die Zülpicher Madonna uns lieb, recht eine Figur, die zu uns spricht in stiller Stunde der Andacht. Mehr will sie auch nicht, als daß wir uns liebend versenken in ihre stumme Sprache als „kostbares Gefäß der Andacht“. Sie ist nicht die Madonna der christlichen Gemeinde, sondern unsere eigene Madonna. Noch ein Schritt weiter, und die Wirklichkeit wird um ihrer selbst willen dargestellt, und die Bindung an das Diesseits wird stärker als die Bindung an die Idee. Die Kunst der kommenden Zeit verlangt andere Aspekte. Das christliche Abendland löst sich auf, und damit geht eine Verweltlichung parallel, die der Natur den letzten Schleier entreißt. Von den Madonnen, die ich hier zeigte, wird uns bewußt, was wir einst besessen haben, aber auch, was wir gewinnen können, wenn die Menschen es je wieder wollen.


Maria

Ich sehe dich in tausend Bildern
Maria lieblich ausgedrückt
doch keins von allen kann dich schildern,
wie meine Seele dich erblickt.

Ich weiß nur, daß der Welt Getümmel
seitdem mir wie ein Traum verweht,
und ein unnennbar süßer Himmel
mir ewig im Gemüte steht.

Novalis

1) Die Datierung der Hovener Madonna ist schwierig und strittig. Wahrscheinlich 1170; spätere Bearbeitung (Zutaten und Reparaturen) bis ins XIV. Jhdt. Heutiges Aussehen siehe Bild in unserem Kalender von 1953 pag. 67.
2) Ein Foto war leider nicht zu erhalten. Wir verweisen auf Clemen, Kunstdenkmäler der Rheinprovinz, Bd. Euskirchen p. 618 Tafel VI.

Entnommen: Heimatkalender des Kreises Euskirchen 1957

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