Caesars Atuatuca
Das Problem der Lokalisierung - Versuch einer Lösung
von Ludwig Drees





4. Die Entfernungsangaben des Ambiorix

Von den induktiv ermittelten Standorten des Cicero in Binche und des Labienus bei Sedan aus müßte es nun möglich sein, auch den Standort des Lagers Atuatuca induktiv zu bestimmen. In seiner Unterredung mit den römischen Unterhändlern will Ambiorix dies zum Abzug bewegen und erklärt: „Bei ihnen liege der Entschluß, ob sie die Soldaten aus dem Winterlager herausführen wollten, ehe die Nachbarn etwas davon vernähmen; sie könnten die Soldaten entweder zu Cicero hinführen, der etwa 50 Meilen (74 km) entfernt sein Lager habe, oder zu Labienus, der nicht viel weiter entfernt sei“ (eductos ex hibernis milites aut ad Ciceronem aut ad Labienum deducere, quorum alter milia passuum circiter quinquaginta, alter paulo amplius ab iis absit. V 27,9).

Zieht man von Binche und von der Öffnung der Maasschleife bei Sedan aus jeweils einen Kreis von 74 km Radius, dann liegt deren Schnittpunkt etwa 20 km südlich von Huy an der Maas. Verlängert man den bei Sedan angesetzten Radius z. B. um 10 % (paulo amplius), so rückt der Schnittpunkt entsprechend näher an Huy heran, doch in beiden Fällen gelangen wir nur bis in das Land der Condruser, die heutige Landschaft Condroz, und nicht in das Land der Eburonen nördlich der Maas. Im Rahmen der induktiven Beweisführung stimmen die Entferungsangaben des Ambiorix nicht.

Umgekehrt sind auch alle Versuche, mit Hilfe eines Dreiecks Atuatuca - Cicero - Labienus - Atuatuca mit den Entfernungen 50 Meilen, 60 Meilen und „nur wenig mehr als 50 Meilen“ (V 27,9), dessen Spitze man in Tongeren ansetzt, um das Lager des Cicero und des Labienus deduktiv zu lokalisieren, gescheitert. Von Tongeren zur Grenze der Nervier westlich von Brüssel sind es zwar nur knapp 60 km (kürzeste Entfernung), aber schon bis zu dem Punkt, wo die Heerstraße Tongeren - Bavai die Grenze der Nervier bei Morlanwelz überschreitet, und an dieser Straße muß das Lager des Cicero gelegen haben, sind es schon 90 km 34). Die kürzeste Entfernung zwischen Tongeren und der Grenze der Remer in den Ardennen nordöstlich von der Einmündung der Semois in die Maas beträgt knapp 105 km 35), eine Distanz, die man nicht mehr als „nur wenig weiter“ denn 74 km betrachten kann. Wenn die Entfernungsangaben des Ambiorix sich schon bei ihrem Ansatz in Tongeren als unbrauchbar erweisen, dann erst recht für einen solchen östlich davon. Diese Analyse beweist, daß die Distanzangaben des Eburonenkönigs nicht glaubwürdig sind.


(Quelle)

Um dieser Schwierigkeit zu entrinnen, hat Albert Grisart vorgeschlagen, die römische Meile (
milia) als gallische Meile (leuga) aufzufassen, da ein Gallier wie Ambiorix die Entfernungen in den einheimischen Längenmaßen ausdrücke 36). Die gallische leuga mißt 2222 m und ist damit um die Hälfte länger als die römische milia von 1480 m. Das ergibt die Entfernungen Atuatuca - Cicero 111 km, Cicero - Labienus 133 km, Labienus - Atuatuca 122 km 37). Auf diese Art gelangt man deduktiv sowohl in das Land der Nervier als auch der Remer, wenn man Atuatuca in Tongeren oder im Raum Lüttich - Verviers - Spa ansetzt 38).

Wir haben jedoch keinen Beweis dafür, daß Cäsar milia im Sinne von leuga gebraucht, da er für die Leser in Rom schreibt. Er setzt auch voraus, daß Cäsar seine eigene Angabe, die Distanz Cicero - Labienus mit 60 Meilen, in gallischen Meilen ausgedrückt hätte.

Das Wort leuga selbst kommt in Cäsars Schriften nicht ein einziges Mal vor 39). Die römische Meile heißt dort mille passus, mille passuum (am häufigsten) oder ohne Zusatz milia, d. h. „Tausend Doppelschritte“ 40). Aus diesen 1000 Doppelschritten kann man nicht willkürlich 1500 machen, um sie in eine gallische leuga umzuwandeln.

Dieser Umdeutung der Maßangabe milia in leuga widerspricht auch die Aussage des Sabinus, die Römer könnten das nächste Winterlager schon „übermorgen“ (V30,3) erreichen. Das war bei der Entfernung von etwa 75 km für eine „mit sehr großem Troß“ (V 31,6) marschierende Legion schon schwierig genug, bei einer Distanz von 111 km jedoch völlig unmöglich.

Die Interpretation der Entfernungen in gallischen Meilen hat nicht zur Klärung der Frage nach dem Winterlager beigetragen: „Diese neue Version bringt uns der Lösung sicherlich nicht näher, im Gegenteil, sie macht das Problem noch verwickelter“ 41).

Wir müssen folglich bei den Entfernungsangaben des Ambiorix die milia passuum (V 27,9) als römische Meilen von tausend Doppelschritten (1480 m) auffassen, dann aber stellt die Distanz von etwa 50 römischen Meilen eine Halbierung der tatsächlichen Entfernung dar.

Mit seiner doppelsinningen Formulierung, „alle Winterlager - bis auf eines - seien in 100 Meilen enthalten gewesen“, drängt Cäsar dem Leser die Bedeutung von „Durchmesser“ etwa eines Kreises auf, während der Satz bei der Nachprüfung in Wirklichkeit bedeutet, daß kein Winterlager mehr als 100 Meilen von dem nächstgelegenen entfernt war.

In der Auslegung „Durchmesser“ wären es von Amiens bis Atuatuca maximal 100 Meilen, was, wie bereits dargelegt, nicht möglich sein kann 42). Wenn Ambiorix nun erklärt, das Lager des Cicero seit etwa 50 Meilen von Atuatuca entfernt (V 27,9), dann müßte der zwischen Atuatuca und Amiens stehende Cicero im Rahmen der Auslegung „Durchmesser“ auch seinerseits etwa 50 Meilen von Amiens entfernt gewesen sein. Da sich aber nachweisen läßt, daß Cäsar, von Amiens heranrückend, das Lager Ciceros in Eilmärschen erst am sechsten Marschtag erreicht, was einer Wegstrecke von rund 100 Meilen in Luftlinie entspricht 43), darf man folgerichtig schließen, daß dieses auch rund 100 Meilen von Atuatuca entfernt war. Die Distanzangabe des Ambiorix entspricht keinem wirklichen Abstand, sondern setzt die Aussage Cäsars, daß „alle Winterlager - bis auf eines - in 100 Meilen enthalten waren“, als Prämisse im Sinne von „Durchmesser“ voraus und ist von ihr abgeleitet. Der Eburonenkönig halbiert ganz einfach den von Cäsar angegebenen Abstand und bestätigt damit indirekt die Richtigkeit der von diesem genannten Gesamtentfernung. Das besondere, geradezu meisterhafte Geschick Cäsars besteht darin, daß er dem Ambiorix die Halbierung der Distanz in den Mund liegt. Während seine eigene Angabe - 100 Meilen - bewußt zweideutig ist, ist die des Ambiorix - etwa 50 Meilen - ohne jede Einschränkung eindeutig. Wenn einer lügen sollte, dann der Feind!

Auf diese von Ambiorix angegebene Entfernung von 50 Meilen von Atuatuca bis zum Lager des Cicero ist dann auch seine Leistung bei dem Ritt von Atuatuca zu den Nerviern abgestimmt, wodurch wiederum Cäsars Angabe als „wahr“ bestätigt wird: „Stolz auf seinen Sieg brach Ambiorix sofort mit seiner Reiterei zu den Atuatukern auf, die an sein Königreich grenzten. Er rastete nicht bei Nacht und nicht bei Tag und hieß das Fußvolk ihm folgen. Nachdem er die Atuatuker unterrichtet und aufgestachelt hatte, gelangte er am nachfolgenden Tage zu den Nerviern“ (V 38, 1-2). Für die Entfernung von etwa 75 km benötigte er zwei Nächte und einen vollen Tag. Wenn die Reiterei nur Schritt geritten wäre, wobei das Pferd in einer Stunde 6 km zurücklegt, konnte er diese Strecke - ohne Rast - in 12 ½ Stunden bewältigen. Dabei muß jedoch der Zeitaufwand berücksichtigt werden, der für die Unterhandlungen mit den Atuatukern erforderlich war.

Auf die Entfernung von 50 Meilen (75 km) ist auch die Aussage des Sabinus zugeschnitten, die anderthalb Legionen in Atuatuca könnten sich schon „übermorgen“ (perendino die V 30,3) mit dem nächstgelegenen Winterlager vereinigen. Damit wird der Eindruck erweckt, die Distanz sei nicht zu groß gewesen. Doch schon von Tongeren bis Binche waren es 100 km.

Wenn nun die Entfernungsangaben des Ambiorix verdoppelt werden müssen, dann waren es von Binche bis Atuatuca rund 100 Meilen, von der Öffnung der Maasschleife bei Sedan dorthin ebenfalls mindestens 100 Meilen. Zieht man von den beiden Ausgangspunkten je einen Kreis mit einem Radius von 148 km, so liegt ihr Schnittpunkt auf dem Autobahnkreuz nordöstlich von Aachen auf der Linie Aachen - Eschweiler 44).

Anmerkungen

34) vgl. MERTENS (Anm. 14), Karte 1 und 2.

35) vgl. MERTENS (Anm. 14), Karte 1 und 2.

36) Zuerst von ROULEZ 1838 für die Entfernung Atuatuca - Cicero vorgeschlagen. Vgl. JULLIAN (Anm. 10), III, S. 383, Anm. 2. Diese Theorie wurde von Albert GRISART übernommen und ausgebaut in seinem Beitrag César dans l'est de la Belgique: les Atuatuques et les Eburons, in: Les Etudes Classiques 28, Nr. 2, 1960, S. 192 f. (= GRISART I). - DERS.: Trois localisations nouvelles. L'oppidum des Atuatuques de 57 avant J.-C., l'Atuatuca éburonne de 54 - 53, les frontìeres des Atuatuques et de leurs vassaux, les cinq peuples Germains Cisrhénans, in: Romana Contact, 12, 1972, Nr. 3-4, S. 18 (= CRISART II).

37) So GRISART I, S. 192 f., und II, S. 18.

38) So GRISART, der Atuatuca nacheinander in Limburg bei Verviers (GRISART I, S. 188-191), Balmoral bei Spa (GRISART II, S. 18 f.), und Chaumont-Dolembreux bei Esneux an der Ourthe (XLIIIe Congrès de la Fédérations des Cercles d‘Histoire, Archéologie et Folklore des Belgique, Saint-Nicolas-Waas, 21-25 août 1974. Section: Histoires militaire, S. 420) lokalisiert. 39)

39) Vgl. H. MERGUET, Lexikon zu den Schriften Cäsars und seiner Fortsetzer mit Angaben sämtlicher Stellen, Jena 1886, Nachdruck Hildesheim 1963.

40) Vgl. ebd., S. 614.

41) E. J. TRIPS, Het vraagstuk Atuatuca, in: Limburg. Tijdschrift voor geschidenis, oudheidkunde en volkskunde 45, 1966, S. 48.

42) S. oben S. 20.

43) S. oben S. 22.

44) Entfernungen gemessen auf der IRO-Karte Frankreich (für die Reisezeit 1975/76) im Maßstab von 1:750000.

5.
Cäsars strategischer Fehler und dessen Verschleierung





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