Caesars Atuatuca
Das Problem der Lokalisierung - Versuch einer Lösung
von Ludwig Drees





I. Die Entfernung von Cäsars Hauptquartier in Amiens zum Winterlager in Atuatuca
1.
Die Interpretation von Cäsars Entfernungsangaben

Das Winterlager Atuatuca gehörte einem Verbund von acht Legionslagern in Nordgallien an, die Cäsar im Herbst 54 v. Chr. anders als in vorhergehenden Jahren wegen Getreidemangels auf mehrere Stämme verteile (V 24,1) 7). Eine Legion unter C. Fabius nahm Quartier bei den Morinern, wohl im Raume von Boulogne s/Mer, eine andere unter Q. Cicero, einem jüngeren Bruder des großen Redners, im Lande der Nervier zwischen Sambre und Schelde, eine dritte unter L. Roscius bei den Essuviern an der Grenze der heutigen Normandie, eine vierte unter T. Labienus bei den Remern hart an der Grenze der Treverer in den südlichen Ardennen, drei weitere Legionen in Belgium, von denen eine unter M. Crassus bei den Bellovakern (Raum von Beauvais) lag, eine andere unter L. Munatius Plancus von Belgium wieder abgezogen und in das Land der Carnuten (Raum von Orléans-Chartres) zum Überwintern verlegt wurde, und eine weitere unter C. Trebonius in Samarobriva (Amiens an der Somme) stand. Bei dieser befand sich Cäsars Hauptquartier (V 24,1 und V 47,2). Eine achte Legion und dazu noch fünf Kohorten schickte er unter dem Oberbefehl der Legaten Q. Titurius Sabinus und L. Aurunculeius Cotta ins Land der Eburonen, wo sie in Atuatuca ihr Winterlager anlegten (V 24,4 und VI 32,3-4). Keines dieser Lager konnte bisher archäologisch nachgewiesen werden 7a).

Der einzige uns bekannte feste Punkt in diesem Verbund ist Amiens. Das am weitesten nach Osten vorgeschobene Lager war Atuatuca, zwischen diesem und Cäsars Hauptquartier lag das des Cicero bei den Nerviern. Folglich muß die Lokalisierung Atuatucas von Amiens aus erfolgen und im Einklang stehen mit den angegebenen Entfernungen der einzelnen Lager zueinander.


Karte 1 - Römerstraßen in der Gallia Belgica (Quelle)

Cäsar hatte die 8 ½ Legionen so verteilt, daß harum tamen omnium legionum hiberna praeter eam, quam L. Roscio in pacatissimam et quietissimam partem ducendam dederat, milibus passuum centum continebantur (V 24,7) „[daß] die Winterlager aller Legionen, mit Ausnahme jener einen, die er dem L. Roscius übergeben hatte mit dem Auftrag, sie in den völlig befriedeten und ruhigsten Teil Galliens zu führen, dennoch in hundert Meilen enthalten waren“. Wie ist diese Entfernungsangabe zu verstehen 8) ?

Mit einer solchen unklaren Formulierung legt Cäsar die Bedeutung „Durchmesser eines Kreises von 100 römischen Meilen“ nahe. Das würde bedeuten, daß Atuatuca maximal 148 km von Amiens (Samarobriva) entfernt gewesen wäre. Dies ist jedoch völlig unmöglich, „for whatever Caesar wrote, it is beyond question that Atuatuca was much more than 100 Roman miles from Amiens“ 9). Die Entfernung von Atuatuca Tungrorum (Tongeren), einem der westlichsten Lokalisierungspunkte Autatucas, bis Amiens beträgt 245 km. Die Bedeutung „Durchmesser eines Kreises“ scheidet also aus.

Camille Jullian versteht die Entfernungsangabe wie folgt: „Lorsque César dit que tous ces camps, sauf celui des Roscius, milibus passuum centum continebantur ... cela veut dire, soit un rayon de cent milles, c'est à dire deux cent milles entre les plus éloignés, du pays de Beauvais ... à Tongres ..., soit une distance maxima de cent milles entre deux camps, par exemple d' Amiens à Binche“ 10). Wenn man die 100 römischen Meilen als Radius eines Kreises versteht, der dann einen Durchmesser von 200 römischen Meilen hätte, umfaßt letzterer die Strecke von Beauvais nach Tongeren, welche 285 km beträgt. Es ist jedoch völlig unmöglich, die angegebene Entfernung als Radius eines Kreises zu verstehen, da der Text diese Deutung einfach nicht zuläßt 11). Sie setzt auch wiederum die Lokalisierung Atuatucas in Tongeren voraus, die nicht erwiesen ist; sobald man sie jedoch in den Raum zwischen Maas und Rhein verlegt, bricht diese Berechnung schon zusammen.

Es bleibt folglich als einziger Ausweg die von Jullian angebotene zweite Interpretation, daß kein Lager weiter als 100 römische Meilen von dem nächstgelegenen war 12).


Anmerkungen

6) So haben wir im Sinne der deduktiven Methode den Hohenstein-Ichenberg bei Eschweiler als Lokalisierungsstätte vorgeschlagen (vgl. Aachener Volkszeitung Nr. 146 und 152 mit ihren Regionalausgaben, Wochenendbeilage Magazin vom 29. Juni und 6. Juli 1974) und diesen Vorschlag auch auf dem Atuatuca-Kolloquium in Tongeren (vgl. Anm. 5) vorgetragen. Dort äußerte Prof. Wankenne die Meinung, der Hohenstein-Ichenberg sei zu weit von Cäsars Hauptquartier in Amiens entfernt. - Mit Hilfe der induktiven Methode gelangen wir jedoch auf viel überzeugendere Weise, so meinen wir, zu derselben Lokalisierung. Die vorliegende ausführliche Darstellung korrigiert den zweiten Teil des Zeitungsberichts in mehreren Punkten.

7) Die im Text eingeklammerten Zahlen beziehen sich auf die Commentarii zum Bellum Gallicum, hrsg. Von OTTO SEEL, Ausgabe Teubner, Leipzig 1968.

7a) Während der Drucklegung dieses Beitrags erschien ein kurzer Aufsatz von A. WANKENNE (vgl. Anm. 5), Enfin Atuatuca!, in: Les Etudes Classiques Roosens 45, 1977, Nr. 1, S. 63-66, in welchem er die These vertritt, Cäsars Atuatuca sei durch die Ausgrabungen von Dr. Heli Roosens auf dem Plateau von Caster entdeckt worden. Dort liegt die vorher schon bekannte alte Wallburg Caster auf einem langgestrecken Bergrücken zwischen der Maas und ihrem westlichen Nebenfluß, der Jeker (le Geer), etwa 5 km südlich von Maastricht auf belgischem Gebiet. In der Liste der Atuatuca-Lokalisierungen von Monique Lesenne (vgl. Anm. 3) erscheint Caster als Nr. 6 auf Grund eines Beitrags von V. COHAUSEN (Cäsars Feldzüge gegen die germanischen Stämme am Rhein, in: Jahrbücher des Vereins von Alterthumsfreunden im Rheinlande 43, 1867), der dort diese Verschanzung S. 23 f. beschreibt und feststellt, daß sie den Bergrücken „kupirt“ (S. 23).

Nun hat Dr. Heli Roosens (vgl. Anm. 20) von 1973 bis 1975 Ausgrabungen in dieser Wallburg durchgeführt und diese Ergebnisse publiziert: Oude versterking te Kanne-Caster, in Archaelogia Belgica 177, Conspectus 1974, Brüssel 1975, S. 32-36, sowie: De oude versterking te Caster, in: Archaeologia Belgica 186, Conspectus 1975. Brüssel 1976, S. 54-58. (Für die Zusendung beider Arbeiten sei Herrn Dr. Roosens hier herzlich gedankt.) Diese Befestigung hat die Form eines abgeflachten Halbkreises, der nach Osten offen ist, da hier die senkrechte Kreidewand entlang des Maastales einen natürlichen Schutz bietet. Auf den befestigten Seiten ist die Anlage mit Graben und Wall umgeben (Höhenunterschied 7,50 bis 9,50 m) und weist zwei Eingänge auf, den einen im Süden, den andern im Nordwesten. Das umschlossene Maastal hat einen Flächeninhalt von etwa 20 ha. (Größte Länge: etwa 620 m, größte Breite: etwa 370 m). Im Wall steckten zur Verstärkung Eichenhölzer, die nach E. HOLLSTEIN (Dendrologische Datierung von Hölzern aus der Wallanlage von Kanne, Caster, in Archaeologia Belgica 186, Conspectus 1975, Brüssel 1976, S. 59-61) im Herbst des Jahres 57 v. Chr. gefällt worden sind. Der Graben erwies sich auf Grund seiner Form als ein Spitzgraben, es wurden jedoch bisher keine römischen Funde gemacht oder Spuren von Bauten entdeckt, so daß eine genaue Datierung einer eventuell römerzeitlichen Belegung der Befestigung von Kanne-Caster nicht möglich ist.

Hierzu vertritt A. Wankenne die Meinung, die prähistorische Befestigung von Caster sei das Castellum Atuatuca (VI 33,3), in welchem die Römer dann ihr Winterlager im Herbst des Jahres 54 v. Chr. angelegt hätten (VI 32,4). Von einer etwaigen Gepflogenheit Cäsars, einheimische Befestigungen für seine Lager zu benutzen, erfahren wir sonst nichts, er berichtet lediglich, daß Galba im Jahre 56 v. Chr. die Hälfte eines von der oberen Rhone durchflossenen Dorfes für die Anlage eines Winterlagers hatte räumen lassen (III 1-6). (Freundliche Mitteilung von W. Vanvinckenroye, Tongeren, vom 18.2.1977.) Es erheben sich auch sonst noch ernsthafte Bedenken, da sich gewisse Aussagen Cäsars, die wir in dieser Untersuchung behandeln, schwerlich mit einer solchen Lokalisierung vereinbaren lassen.

2. Das Lager des Cicero auf dem Felsenplatau von Binche im Lande der Nervier





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