Caesars Atuatuca
Das Problem der Lokalisierung - Versuch einer Lösung
von Ludwig Drees





2. Das Lager des Cicero auf dem Felsenplatau von Binche im Lande der Nervier

Nachdem der Eburonenkönig Ambiorix die Römer in der Schlacht bei Atuatuca besiegt hat (Herbst 54 v. Chr.), bricht er sofort mit seiner Reiterei nach Wesen auf, um das zwischen Atuatuca und Amiens gelegene Lager des Cicero anzugreifen. Dabei durchquert er das Gebiet der Atuatuker, die an sein Reich grenzen, gewinnt sie für sein Vorhaben und erreicht dann das Land der Nervier. Zu dritt beginnen diese Stämme nun die Belagerung des Cicero (V 38,1-2). Es gelingt diesem, das Hauptquartier in Amiens über seine bedrängte Lage zu benachrichtigen.

Bei Erhalt des Hilferufes bricht Cäsar mit einer Legion von Amiens um die dritte Stunde auf (9 Uhr) und legt an diesem ersten Tag 20 Meilen (30 km) zurück (V 47,1).

Er hatte C. Fabius im Lande der Moriner den Befehl zugeschickt, mit seiner Legion unterwegs zu ihm zu stoßen, und zwar solle er in das Land der Atrebaten (Raum um Arras) marschieren, da er, Cäsar, selbst den Weg dorthin nehmen müsse (V 46,3). Fabius vereinigt sich befehlsgemäßt mit Cäsar vermutlich in Arras, doch trifft er etwas verspätet ein: Fabius, ut imperatum erat non ita multum moratus, in itinere cum legione occurrit (V 47,3). Offenbar war sein Anmarschweg auf der Straße Boulogne - Arras länger als der Cäsars auf der Straße Amiens - Arras. Letztere Strecke beträgt knapp 60 km (Zweiter Tag).

Von nun ab führt ihr Weg sie gemeinsam weiter. Die Stärke der beiden vereinigten Legionen beträgt kaum 7000 Mann (V 49,7). Cäsar erblickt das Heil seines Rettungsunternehmens in der Schnelligkeit (V 48,1). Er erreicht das Land der Nervier in Eilmärschen (V 48,1). Hier erfährt er von den Gefangenen Genaueres über die Lage Ciceros. Er schickt einen gallischen Reiter an ihn ab mit einem Brief, in welchem er ihm mitteilt, „er werde rasch zur Stelle sein“ (V 48,6). Während die Legionen marschieren, reitet der Bote. Am Ziel angekommen, befestigt er den Brief an einen Wurfspieß und schleudert diesen in das Lager, dort bleibt er jedoch an einem Turme zwei Tage hintereinander unbemerkt hängen (V 48,8). Der Brief wird erst am dritten Tag nach seinem Abwurf entdeckt, doch schon bald danach sieht die Lagerbesatzung Rauchsäulen in der Ferne aufsteigen, die das Nahen Cäsars ankünden (V 48,10). Cicero schickt ihm einen Brief und meldet ihm, die Nervier hätten die Belagerung abgebrochen und zögen ihm entgegen. Cäsar erhält diese Nachricht gegen Mitternacht (V 49,4) (Fünfter Tag).

Am frühen Morgen marschiert er 4 Meilen (6 km) weiter, schläft ein Lager auf und erwartet hier die Nervier, denn da er Cicero außer Gefahr weiß, kann er sein Marschtempo verlangsamen (V 49,6). Doch es verstreicht der Rest des Tages mit Reitergeplänkeln an einem Bach (V 50,1) (Sechster Tag). Erst am folgenden Morgen kommt es zur Schlacht. Cäsar siegt und gelangt noch an demselben Tage (V 52,1) nach der neunten Stunde (V 53,1), nach 3 Uhr nachmittags also, zu Cicero (Siebter Tag). - Den sechsten und siebten Tag können wir wegen des unterbrochenen Marsches zu einem einzigen Marschtag zusammenziehen. Cäsar hat mindestens fünf volle Marschtage und einen angebrochenen sechsten benötigt, um das Lager Ciceros zu erreichen.

Falls wir das Tempo des ersten Tages, nämlich 20 Meilen, als durchschnittliche Tagesleistung ansehen, dann war dies der Zeitaufwand, der etwa erforderlich war, um eine Strecke von rund 100 Meilen (148 km) zurückzulegen. Da kein Lager weiter als 100 Meilen von dem nächstgelegenen entfernt war, muß dasjenige des Cicero an der Grenze dieses Maximalabstandes gelegen haben. Camille Jullian lokalisiert es versuchsweise, „hypothétiquement“, in den Städtchen Binche 21 km westlich von Charleroi, „sur la grande route du Nord, d'Amiens à Cologne“ 13). Von hier bis Amiens sind es in Luftlinie 146 km, von hier bis zur Ostgrenze der Nervier, an der das Land der Atuatuker begann, waren es noch etwa 10 km 14). Wir schließen uns dieser Ortsbestimmung an, da zwingende Größe für sie sprechen.

Die heutige Stadt Binche 15) liegt auf einem ebenen Plateau, dessen Ränder steil zu der Samme abfallen, die es von drei Seiten umfließt. Der Fluß ist heute unterirdisch kanalisiert. Das Plateau erhebt sich stellenweise beinahe senkrecht bis zu 15-20 m über der Talsohle und bildet ein nahezu regelmäßiges Rechteck von etwa 600 m Länge und etwa 350 m Breite mit einem Flächeninhalt von ca. 21 ha. Nach Süden zu, wohin es leicht ansteigt, setzt es sich in einem beinahe gleichschenkligen Dreieck von etwa 320 m Seitenlänge und etwa 210 m Höhe fort, was einem Flächeninhalt von etwa 3,4 ha ergibt. Die Gesamtausdehnung würde demnach ca. 25 ha betragen, eine Größe, die für die Legionslagen in Bonn und Neuß archäologisch nachgewiesen ist 16).

Die mittelalterliche Stadt Binche hat die Steilränder des Plateaus mit hohen Mauern und vorspringenden Halbtürmen eingefaßt und diese Wehr über die ungeschützte Nordseite weitergeführt, so daß ein rundum von Mauern umsäumtes Areal entstand, dessen Gürtel noch beinahe vollständig erhalten ist mit einer Gesamtlänge von etwa 3 km. Diese Stadt liegt nicht hinter ihren Mauern, sondern auf ihnen.

In der Annahme, daß dieser Umfang auch der des Lagers war, würde er die Länge des Einschließungswalls und –grabens erklären, den die Nervier rund um dasselbe anlegten. Der Wall war 3 m hoch, der Graben 4,50 m breit (V 42,1), die Anlage 15000 Fuß oder 4,5 km lang (V 42,4). Das ergibt einen Abstand zum Lagerrand von etwa 240 m 17). Vermutlich waren die Belagerer bei dieser Entfernung außerhalb der Reichweite römischer Wurfmaschinen, wenngleich die Römer auch schwere Belagerungsartillerie besaßen, die Steine von einem halben Zentner beinahe 400 m weit schleudern konnte 18).


Karte 2: Stadtmauer von Binche mit Flußschleife und Römerstraße (Quelle)

Im Südwesten, Süden und Südosten lagen die Nervier höher als die Römer und konnten deren Lager einsehen. Um dieses in Brand zu schießen, wie sie es mit glühenden Tonkugeln und glühend gemachten Wurfspeeren bei einem anhebenden Sturmwind tagten (V 43,1), mußten sie näher an das Lager herangehen, konnten aber hier den Vorteil des Geländes nutzen und ihre Brandgeschosse aus einer vorteilhaften Position, vor allem im Südwesten, über das ziemlich enge Tal hinwegschleudern.

Entscheidend für die Lokalisierung des Lagers Ciceros in Binche ist der Umstand, daß die Nervier „darangingen, Türme in der Höhe des Walles aufzurichten und Mauersicheln und Schildkrötendächer herzurichten“ (turres ad altitudinem valli, falces testitudinesque ... parare ac facere coeperunt V 42,5). Als die strohgedeckten Baracken in Flammen standen, „brachten die Feinde ... ihre Türme und Schildkrötendächer [an das Lager] heran und begannen mit Leitern den Wall zu ersteigen“ (hostes ... turres testitudinesque agere et scalis vallum ascendere coeperunt V 43,3). „Sie hatten sich dicht unmittelbar unter dem Wall zusammengedrängt ... und schoben an eine bestimmte Stelle einen Turm heran und brachten ihn bis unmittelbar an den Wall“ (se sub ipso vallo constipaverant ... et quodam toco turri aducte et contingenie vallum V 43,5-6).

Wäre der Lagerwall wie üblich bei Cäsar ein Erdwall mit Palisadenzaun von insgesamt 3,60 m Höhe und vorgelagertem Graben von 5,40 m Breite gewesen 19), dann wären Belagerungstürme und Sturmleitern von wenig Nutzen gewesen. Diese technischen und taktischen Maßnahmen weisen darauf hin, daß die Nervier, um das feindliche Lager zu stürmen, die Steilwände des Plateaus, vor denen sie standen, ersteigen mußten.

Die Stadt Binche hat sich über den mittelalterlichen Mauergürtel hinaus ausgedehnt und zählt heute gut 10000 Einwohner. Weit und breit gab es zur Römerzeit keine zu großräumiger Verteidigung besser geeignete Stätte als Binche, so daß es sinnvoll erscheint, Ciceros Lager dort zu lokalisieren, wenngleich auch bisher keine römische Analge in Binche festgestellt worden ist 20).

Ein Lager an diesem Ort hätte verkehrsmäßig außerordentlich günstig gelegen, da die spätere Heerstraße Bavai - Tongeren - Jülich - Köln, vermutlich die Trasse einer gallischen Straße benutzend, in einer Entfernung von knapp 1 km an der Öffnung der Flußschleife von Binche vorbeiführte 21).

Über diese Straße muß Cäsar, als er den Hilferuf des bedrängten Cicero erhielt, von Amiens kommend, mit seinen beiden schwachen Legionen von insgesamt knapp 7000 Mann (V 49,7) in Eilmärschen heranmarschiert sein. Auf die Kunde von seinem Nahen brechen die Nervier die Belagerung ab und ziehen ihm in einer Stärke von 60000 Mann entgegen (V 49,1). In seinem letzen Marschlager vor Erreichen des Cicero erfährt Cäsar von diesem in einem Brief die neue Lage. Im Morgengrauen bricht er auf und marschiert etwa 4 Meilen (6 km) weiter, als er „jenseits des Tales und eines Baches“ die Menge der Feinde erblickt (V 49,5). Da seine Truppenstärke gering und das Gelände für eine Schlacht ungünstig ist (V 49,6), schlägt er auf der Höhe vor dem Tal ein Lager auf. An demselben Tage finde nur Reiterscharmützel am Bache statt. Am anderen Morgen gehen die Nervier über das Flüßchen und eröffnen den Kampf auf einem für sie ungünstigen Gelände (V 51,1) - sie müssen den Hang hinauf - und werden geschlagen. Cäsar verzichtet auf eine weitere Verfolgung des fliehenden Feindes, weil „Sümpfe und Wälder“ sich hier erstrecken (V 52,1).

Der Ort dieser Schlacht muß das heutige Dorf Estinnes-au-Mont an dem Bach Estinnes, an der Straße Bavai - Tongeren gelegen, gewesen sein. Von hier bis Binche sind es noch 4 km. Der Bach bildet an dieser Stelle ein enges Tal, auf dessen Höhen im Osten die Nervier, im Westen die Römer gelagert hätten. Wir pflichten Camille Jullian bei, wenn er dieses Treffen bei Estinnes-au-Mont lokaliksiert 22). Nach seiner Meinung lagen die erwähnten Wälder im Süden und die Sümpfe im Norden der Kampfstätte, doch sind beide der Kultivierung gewichen.

Alle geographischen und topographischen Faktoren legen eine Lokalisierung von Ciceros Lager in Binche nahe.

Anmerkungen

13) JULLIAN (Anm. 10), III, S. 383, Anm. 2. - Zur Frage der Lokalisierung dieses Lagers vgl. außerdem HOLMES (Anm. 1), S. 383 f., und J. MERTENS in Helinium II, 1063, S. 170, 180 sowie J: MERTENS, Aspecte des la Romanisation dans l'Quest du Pay Gaumais, in: Helinium III, 1963, S. 206.

14) Unter der Voraussetzung, daß die Civitas Nerviorum ihre Fortsetzung findet in der Civitas Camaracensium und diese wiederum im alten Bistum Cambrai, Vgl. dazu die Karte 2 von J. MERTENS, La Belgique romaine sous le Bas-Empire, in: Service national des fouilles, Cartes archéologiques de la Belgique 1-2. La Belgique à l'époque romaine, Cartes et notice élaborées par J. MERTENS avec la collaboration de Andrée DESPY-MEYER, Brüssel 1968. - Vgl. ferner E. DE MOREAU, Histoire de l'Eglise en Belgique, Tome complémentaire I, Texte. Circonscriptions ecclésiastiques Chapitres, Abbayes, Couvents en Belgique avant 1559, Brüssel 1948. Darin die Karte II: Diocèses de Cambrai, de Tournai, de Thérouanne et d'Utrecht von J. DEHARVENG und A. DE GHELLINCK.

15) Vgl. den Plan der Stadt Binche in: 1971 Michelin, Benelux, Paris, S. 64, und unsere Karte 2.

16) Vgl. HARALD VON PETRIKOVITS, Die römischen Streitkräfte am Niederrhein. Kunst und Alterum am Rhein. Führer des Rheinischen Landesmuseums in Bonn, Nr. 13, Düsseldorf 1967, S. 15 f.

17) Auf einen Kreis übertragen, ergibt ein Lagerumfang von 3 km einen Radius von 477 m, und ein Umfang des Gegenwalles von 4,5 km einen Radius von 716 m. Die Differenz beträgt 239 m.

18) Vgl. HOLMES (Anm. 1), S. 583.

19) So das Lager Cäsars an der Aisne (II 5,6). Vgl. HOLMES (Anm. 1), S. 586. Er erwähnt noch ein Lager im Bellum civile (III 63,1) mit einem 4,50 m breiten Graben und einem 3 m hohen Wall. EBD., Anm. 6.

20) A. WANKENE, La Belgique à l'époque romaine. Sites urbains, villageois, religieux et militaires, Brüssel 1972, erwähnt Binche nicht, dagegen wohl die römische Siedlung Waudrez ganz in der Nähe von Binche jenseits der Samme, bemerkt jedoch hierzu: „Mais rien n'indique l'emplacement du camp des Cicéron.“ Ebd., S. 48. Falls dieses Lager auf dem Gebiet der heutigen Stadt Binche gelegen hat, wie wir annehmen, dann kann es nicht jenseits der Flußschleife in Waudrez gesucht werden. Auf meine Anfrage teilte mir Herr Dr. H. Roosens, Direktor des „Nationale Dienst voor Opgravingen“, Brüssel, am 14.11.1975 freundlicherweise mit, ihm seien keine Ausgrabungen oder Funde bezüglich Binche bekannt.

21) Vgl. MERTENS (Anm. 14), Karten 1 und 2, dazu die Michelin-Karte 1:200000 Nr. 4, Brüssel. Es ist die alte Brünhildenstraße, „Chaussée des Brunehaut“.

22) JULLIAN (Anm. 10), III, S. 383, Anm. 2.

3. Das Lager des Labienus in der Maasschleife bei Sedan im Lande der Remer an der Grenze der Treverer





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